Ideen Medien, Fake News und Propaganda

Zeit für einen europäischen Rundfunk

In sozialen Medien verbreitet sich Propaganda schneller als seriöse Information, während die EU-Staaten aneinander vorbeireden. Jakob von Weizsäcker und André Wilkens fordern deshalb einen Europafunk zur Rettung der Demokratie.

Veröffentlicht am 24 Februar 2017 um 08:19

Petra aus München liest ihn auf dem Smartphone in der U-Bahn, Gunnar aus Malmö hört ihn im Autoradio, und Maria guckt ihn gemütlich abends vom Sofa. Kinga aus Budapest vertraut ihm, wenn sie wissen will was wirklich in Europa und der Welt passiert. Angela gibt ihm Interviews, Bono singt für ihn, Jamie kocht. All das in Farbe, in 24 Sprachen, digital und analog, kurz und lang, ernst und heiter, aber immer in bester Qualität. So stellen wir uns Europafunk vor, den öffentlich-rechtlichen Medienkanal aus und für Europa, der, wenn es nach uns geht, spätestens 2019 an den Start gehen soll.

Aber brauchen wir denn überhaupt einen europäischen öffentlich-rechtlichen Kanal? Hat Europa nicht genug andere Probleme? Ja, Europa hat die Krisen. Die Flüchtlingskrise macht uns zu schaffen, die Eurokrise ist nicht überstanden, Konflikte in unserer Nachbarschaft fordern uns außenpolitisch heraus, die Briten verlassen die EU, auch die USA könnten sich demnächst aus Europa zurückziehen, und die Wirtschaft kommt nicht so richtig in Fahrt. Die EU-Staaten reden immer öfter aneinander vorbei. Und die rechten Populisten machen sich das zunutze.

Nicht nur das nationale Sein, auch das nationale Sehen bestimmt unser Bewusstsein. Wir sind gefangen in nationalen Filterblasen, in denen wir europäische Themen wie Zuwanderung, Euro, Datensicherheit, Energie, Arbeitslosigkeit und Steuerhinterziehung aus nationaler Sicht, mit nationalen Akteuren und Interessen aufarbeiten und konsumieren.

Die Digitalisierung potenziert diese Herausforderung noch. Das Internet könnte ein idealer Hort eines globalen aufklärerischen Bewusstseins sein - eigentlich. Doch es droht zur antiaufklärerischen Echokammer zu verkommen. Die digitale Filterblase verengt den Horizont auf das eigene Social-Media-Umfeld. Und erst im Juni hat Facebook angekündigt, den Newsfeed des Nutzers noch stärker auf Inhalte von Freunden und Familienmitgliedern zu verengen Das hat mit dazu beigetragen, dass die USA spätestens mit der Wahlkampagne und dem Wahlsieg Donald Trumps im postfaktischen Zeitalter angekommen sind.

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Eine funktionierende Öffentlichkeit spielt in dieser Klick-Ökonomie keine große Rolle. Zugleich erodiert die materielle Basis des Qualitätsjournalismus immer weiter. Hier tun sich Lücken auf, die für Europa systemisch relevant und demokratiegefährdend sind.

Hinzu kommt, dass in einigen EU-Ländern auch die nationale Öffentlichkeit politisch unter Druck ist: Wenn die pluralistische Medienunabhängigkeit in Ländern wie Polen und Ungarn verschwindet, hat das auch unmittelbare Rückwirkung darauf, wie Europa funktioniert.

Kein Wunder, das wir kein gemeinsames Bewusstsein von Problemen, Krisen und auch Chancen entwickeln, geschweige denn echte europäische Lösungen. Auf die Dauer kann die europäische Demokratie nur florieren, wenn sie von einer europäischen Öffentlichkeit begleitet und kontrolliert wird, statt von fragmentierten nationalen Öffentlichkeiten und deren Positionen.

Genau deshalb glauben wir, dass ein Europafunk gerade jetzt dringend notwendig und zeitgemäß ist. Er soll das Rückgrat einer europäischen Öffentlichkeit im Sinne einer europäischen Polis sein und dazu beitragen, Medienunabhängigkeit und Pluralität in der EU zu sichern - insbesondere dort, wo sie in Gefahr ist - und sich konkret zur Aufgabe machen, zukunftsweisende digitale Medienmodelle zu entwickeln, die zu Europa passen. Europafunk ist die Ansage, einen digitalen europäischen Airbus für europäische Öffentlichkeit zu schaffen.

Wie kommt man da hin? Indem man die Herausforderung angeht mit einem vernünftigen Mix aus Governance, Finanzierung, Formaten, Verbreitung, Innovation, Sprache und Regulierung. Was so einfach hingeschrieben ist, wird in der Umsetzung die Quadratur des Kreises sein, oder optimistischer gesagt: eine extrem spannende Aufgabe.

Erstens: In einer Zeit, in der sowohl private als auch öffentlich-rechtliche Medien mit den Herausforderungen der digitalen Transformation zu kämpfen haben, sehen wir die öffentliche Hand finanziell in der Pflicht. Sinnvoll wäre eine europäische Grundfinanzierung, wesentlich ergänzt durch Gebühren für die großen digitalen Plattformen wie Facebook, Google und Twitter, die von der Klick-Ökonomie und der systematischen Datenabschöpfung enorm profitieren, ohne sich an den Kosten für die inhaltlichen und politischen Voraussetzungen für einen nachhaltigen Erfolg des Internets angemessen zu beteiligen.

Zweitens: Die Governance von Europafunk muss journalistische Unabhängigkeit gewährleisten und dabei europäische Vielfalt repräsentieren, ohne aber zu bürokratischem Stillstand zu führen. Europafunk darf kein Propagandainstrument der Europäischen Union werden, und dies muss in der Governance unzweideutig und glaubwürdig zum Ausdruck kommen.

Drittens: Der Europafunk wird sein Programm in all den Formen anbieten, in denen Europäer Medien konsumieren, also Bewegtbild, Text, Ton, Bild, und in deren innovativer Kombination. Dabei sollte der Auftrag an den Europafunk so definiert werden, dass er nicht nur eine Koexistenz des Privaten und des Öffentlich-Rechtlichen sicherstellt. Er sollte auch neue und substanzielle Einnahmequellen für private Qualitätsmedien erschließen, indem er auch als Plattform für bereits vorhandene journalistische Inhalte fungiert. Dieses Feld dürfen wir nicht Google News und Facebook überlassen, die die ökonomische Basis der Qualitätsmedien nicht etwa stützen, sondern aushöhlen. Datensicherheit sowie eine überschaubare und transparente Werbebelastung werden erlebbare Wettbewerbsvorteile des Europafunks sein.

Viertens: Die EU hat 24 Amtssprachen und noch eine Reihe halbamtlicher Sprachen. Europafunk muss sich dieser Herausforderung proaktiv stellen und dabei von den dynamischen Entwicklungen digitaler Übersetzungstechnologien profitieren. Inhalte müssen in allen EU-Sprachen verfügbar sein. Eine bewusste Investition in ein multilinguales Medium wird Spill-over Effekte in andere Wirtschaftsbereiche schaffen und ist insofern auch ein nicht zu unterschätzendes Element europäischer Innovationspolitik.

Fünftens: Die Chancen von Europafunk werden entscheidend verbessert, wenn er sich in einem förderlichen regulatorischen Umfeld entwickeln kann. Dabei denken wir an europäische Regulierung von digitalen Plattformanbietern, die einen bestimmten Prozentsatz ihrer Medienplätze, sagen wir fünf Prozent, für die neue europäische Medienplattform reservieren ("Must-Carry"), sowie eine allgemeine Gebühr von fünf Prozent auf die europäischen Umsätze der großen Internetplattformen. Diese Gebühr wird Teil der Finanzierung von Europafunk und beteiligt die digitalen Plattformen, die schon jetzt von einem grenzenlosen Europa profitieren, an der Schaffung einer europäischen Medienöffentlichkeit.

Ein neues Medienunternehmen zu gründen, neue Nutzer aus allem demografischen und sozialen Schichten langfristig zu binden, noch dazu europaweit - das ist eine Riesenaufgabe, dessen sind wir uns durchaus bewusst. Aber es geht ja auch um viel. Es geht um Identität, um Demokratie, um Freiheit, es geht um die Zukunft des europäischen Modells.

Spätestens Anfang 2019 sollte Europafunk an den Start gehen, etwa mit einer Art europäischen Champions League der Talkshows, in der europäische Köpfe miteinander diskutieren, streiten und Lösungen suchen. Denn 2019 sind die nächsten Europawahlen. Die Parteien werden ihre europäischen Spitzenkandidaten an den Start bringen. Wie eine Wahl aus post-faktisch gefüllten Filterblasen heraus aussieht, haben wir gerade erlebt. Nicht nur, aber auch deshalb brauchen wir dringend ein starkes und vertrauenstiftendes Medium europäischer Öffentlichkeit. Packen wir es an.

Cet article est publié en partenariat avec Spiegel Online

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