Ideen Hartes Vorgehen gegen die Demokratie in der Türkei

Sollte Europa weiterhin zu Erdoğan stehen?

Durch das harte Vorgehen der Regierung gegen Personen, denen Nähe zu den angeblichen Drahtziehern hinter dem Putschversuch im Juli vorgeworfen wird, entwickelt sich die Türkei langsam zu einem autoritären Regime. Regierungsmitglieder in Europa – allen voran der selbstgefällige schwedische Außenminister Carl Bildt – sollten aufhören, Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu unterstützen, meint ein türkischer Akademiker, der in Schweden lebt.

Veröffentlicht am 21 März 2017 um 06:05

„Schläft Brüssel, oder ist das einfach nur Ignoranz?“ fragte der ehemalige Premierminister und jetzige schwedische Außenminister Carl Bildt in einem Gastkommentar in Politico und übte scharfe Kritik an der „halbherzigen Reaktion“ der europäischen Regierenden auf den gescheiterten Putsch vom 15. Juli in der Türkei „Die EU hat lange gebraucht, bis sie die Ereignisse verurteilt hat“, schrieb Bildt und stattdessen „begannen die Regierenden in Europa sofort damit, Maßnahmen der türkischen Behörden infrage zu stellen, mit denen diese alle Elemente aus Machtpositionen entfernte, die im Verdacht standen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben.“
Für ihn war es „keine Frage, dass die Türkei das Recht, und sogar die Pflicht hat, Maßnahmen zu ergreifen, um sich selbst vor Kräften zu schützen, die ihre verfassungsgemäße Ordnung zu stürzen.“ Selbstverständlich bestehe „ein ernstes Risiko, dass diese Maßnahmen zu weit gehen“, aber der Europarat und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte könne dies beurteilen, wenn sich die Lage beruhigt habe. In jedem Fall sei es „schwer, zu diesem Zeitpunkt zu sagen, ob die Regierung das Netz zu weit oder nicht weit genug spannt, aber Irrtümer in beiden Richtungen schaffen nur neue Probleme.“
Dies ist auch die wesentliche Stoßrichtung eines Berichts, den der Europäische Rat für Auswärtige Beziehungen (ECFR) herausgegeben hat, dessen stellvertretender Vorsitzender Carl Bildt ist. Verfasst vom Senior Policy Fellow Aslı Aydıntaşbaş und von Bildt als „das Beste, was man zur Gülen-Bewegung und ihrer gefährlichen Rolle in der Türkei finden kann“ bezeichnet, sieht der Bericht die offizielle Sicht als erwiesen an und behauptet, der Coup sei tatsächlich von Führungskräften der Gülen-Bewegung organisiert worden – und missachtet dabei die vielen Ungereimtheiten, gar Widersprüche, in den Aussagen der verhafteten Putschisten sowie die Tatsache, dass diese Version viele faktische Lücken enthält. Viele Beobachter kamen dadurch zu dem Schluss, dass das, was in jener verhängnisvollen Nacht geschah, viel komplizierter war als die AKP-Regierung uns glauben machen will.
Fairerweise muss gesagt werden, dass der Bericht auf seinen abschließenden Seiten das „brutale Vorgehen“ nach dem Staatsstreich erwähnt, er gibt jedoch „übereifrigen Ermittlern“ die Schuld und sorgt sich mehr um die Gefahr, die dadurch für das „Image der Türkei im In- und Ausland“ entsteht, als um die eigentlichen Opfer. [Anmerkung der Redaktion: Der Autor des Berichts gibt auch an, dass „die Zeit nach dem Staatsstreich sich zeitweise selbst wie ein Staatsstreich anfühlt.“]
Wie können wir diese plötzliche und, nach unserem besten Wissen, unaufgeforderte Erdoğanophilie verstehen? (Bildts oben erwähnter Artikel trägt den Titel „Europe, Stand up for Erdoğan“ – nicht für die Türkei oder für die Demokratie)?
Handelt es sich nur um ein Zeichen der Solidarität von einem ebenfalls konservativen Politiker, dessen Karriere (gleichermaßen?) in Kontroversen verstrickt ist – einem Diplomaten, der als Sondergesandter der EU im ehemaligen Jugoslawien „Luftangriffe blockiert hat, die das Massaker an 6000 Männern in Srebrenica hätten verhindern können“, wie aus ehemals geheimen Archivdokumenten der Ära Clinton hervorgeht? Einem Außenminister, der vom Verfassungsausschuss des Riksdag (dem schwedischen Parlament) zu seiner Mitgliedschaft im Vorstand von Vostok Nafta befragt wurde, einer Investmentgesellschaft mit Beteiligungen an der russischen Gazprom? (Bildt verließ das Unternehmen zwei Monate nachdem er Außenminister wurde.) Einem Außenminister, der auch Vorstandsmitglied bei Lundin Petroleum war, einer Ölgesellschaft, der in einem Bericht aus dem Jahr 2010 von der Europäischen Koalition für Öl im Sudan sowie mehreren Nichtregierungs- und Menschenrechtsorganisationen vorgeworfen wurde, an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit schuldig zu sein?
Oder ist er ein Eurokrat der alten Schule, vielleicht ein romantischer Einzelgänger, der die „politischen Ideale und demokratischen Werte“ Europas zu verteidigen sucht, die sich – wie er behauptet – in der Antwort der EU auf den gescheiterten Putsch in der Türkei nicht widerspiegelten? Glaubt er wirklich, dass ein stärkeres Engagement in der Türkei die Aussichten für die Demokratie in der Türkei verbessern könnte?
Wenn er eine ehrliche Sorge oder Leidenschaft für die Demokratie verspürt – warum hat unser Einzelgänger dann die rasche Transformation der Türkei in eine vollwertige Diktatur während der dreieinhalb Monate nach dem gescheiterten Coup schweigend beobachtet? Ist er der Meinung, dass die Maßnahmen der türkischen Regierung noch immer nicht ausreichen? Ist das Netz noch immer nicht weit genug gespannt, um einen einzigen kritischen Tweet zuzulassen?

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Oder ist er zu sehr mit Reisen rund um die Welt beschäftigt, um mit dem schwindelerregenden Tempo des politischen Wandels in der Türkei Schritt zu halten? Dann sollten wir ihm einen kleinen Gefallen tun und eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse der letzten Tage liefern, denn ein umfassenderer Bericht über das brutale Vorgehen nach dem Putsch würde mindestens so lang wie eine Novelle:
Mit zwei neuen Notverordnungen am 29. Oktober verloren 10 158 Beamte über Nacht ihren Job, zusätzlich zu den 100 000, die bereits wegen Mitgliedschaft im Gülen-Netzwerk, der PKK und anderen linksgerichteten Organisationen bzw. als Sympathisanten dieser Gruppierungen entlassen worden waren. Weitere 37 000 wurden seit dem 15. Juli wegen ähnlicher Vorwürfe verhaftet.
1267 Akademiker wurden unter denselben Verordnungen von ihren Universitäten entlassen, ihre Gesamtzahl beträgt somit 2000 (die genaue Zahl bleibt unbekannt!). Dies schließt auch mehrere Mitglieder der „Akademiker für den Frieden“ ein, die eine Petition für die Einstellung der feindseligen Handlungen im Südosten der Türkei unterzeichnet hatten. Laut dem in New York ansässigen wohltätigen Scholar Rescue Fonds gab es einen „beispiellosen“ Anstieg der Hilfsanträge aus der Türkei – 65 Förderanträge seit dem 15. Juli. Mit der Verordnung vom 29. Oktober wurden auch Wahlen für Rektoren abgeschafft, sodass Präsident Erdoğan jetzt berechtigt ist, Rektoren direkt zu ernennen.
15 Medien wurden durch dieselben Verordnungen geschlossen, darunter die Nachrichtenagentur Jinha, in der ausschließlich Frauen arbeiteten. Insgesamt wurden seit dem 15. Juli 168 Medien geschlossen und rund 100 Journalisten verhaftet, sodass nun insgesamt 144 Journalisten in Haft sind – mehr als in Russland, China und dem Iran zusammen. Das melden die Plattform P24 für unabhängigen Journalismus und verschiedene andere Kommentatoren. Laut www.engelliweb.com war zu dem Zeitpunkt, an dem dieser Artikel verfasst wurde, der Zugriff auf 114 264 Websites blockiert. Die Türkei führt auch in den Charts für Twitter-Zensur. Allein in der ersten Jahreshälfte 2016, also vor dem Putschversuch, kamen 72 Prozent der 1003 Anträge auf Entfernung von Inhalten von Gerichten und Behörden aus der Türkei, gefolgt von Russland, das nur 7 Prozent der Anträge einreichte.
Die Notfallverordnungen vom 29. Oktober 2016 ordneten die Aufzeichnung von Gesprächen zwischen Rechtsanwälten und Häftlingen, darüber hinaus müssen diese Gespräche der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt werden. Frühere Verordnungen weiteten die maximale Länge des Polizeigewahrsams ohne richterliche Überprüfung von vier auf dreißig Tage aus. Häftlingen kann bis zu fünf Tage lang der Zugang zu einem Anwalt verweigert werden. Die Verordnungen gestatten den Behörden auch, Pässe von Personen, gegen die Ermittlungen laufen, sowie deren Ehepartnern oder Partnern, für ungültig zu erklären oder zu beschlagnahmen.
Ein Bericht der Organisation Human Rights Watch (HRW), der am 24. Oktober veröffentlich wurde, dokumentierte 13 mutmaßliche Fälle von Folter, darunter Schlafentzug, schwere Schläge, sexueller Missbrauch und Vergewaltigungsdrohungen, seit dem Putschversuch. Dies zeigt, in welchem Ausmaß die Situation unter den Notfallverordnungen die Rechte und Haftbedingungen der nach dem Putschversuch Verhafteten beeinträchtigt. Dies veranlasste das Justizministerium und das Innenministerium dazu, eine gemeinsame Erklärung herauszugeben, in der Human Rights Watch beschuldigt wird „unter dem Einfluss von Personen mit Verbindungen zur gülenistischen Terrororganisation FETÖ“ zu stehen.
Bürgermeister und Gemeinderäte in 27 Gemeinden, die meisten im überwiegend kurdischen Südosten, wurden aus dem Amt entfernt und durch von der Regierung ausgewählte Treuhänder ersetzt. Die letzten Opfer dieser „Maßnahme“ waren Gültan Kışanak und Fırat Anlı, Bürgermeister von Diyarbakır (der größten kurdische Stadt in der Türkei) – sie wurden am 31. Oktober 2016 verhaftet.
Die Verfolgungen oder „das von der Regierung ausgelegte Netz“, um bei Bildts Formulierung zu bleiben, wurden auf Oppositionszeitungen aus dem Mainstream ausgeweitet. Die letzte Razzia betraf die Tageszeitung Cumhuriyet, dabei wurden 13 Mitarbeiter einschließlich des Chefredakteurs verhaftet. Der Vorwurf lautet, sie hätten „Verbrechen“ im Namen der Gülen-Bewegung und der PKK „begangen“.

Wie jeder, der die Nachrichten aus der Türkei verfolgt, leicht erkennen kann, ist diese Liste nur die Spitze eines massiven Eisbergs, jedoch anscheinend noch nicht groß genug um von Carl Bildt und seinen Kollegen beim ECFR bemerkt zu werden. Sie bleiben lieber bei der „Sicht aus Ankara“, wie der Titel eines Artikels von İbrahim Kalın, Berater von Präsident Erdoğan und ein enger Freund von Bildt, auf der ECFR-Website zeigt.
Carl Bild wurde hier als Gesprächspartner gewählt, da er die erste politische Person von einigem Rang war, der Erdoğan nach dem gescheiterten Putsch zur Hilfe eilte und der erste, der das Bild der „bösen Gülenisten“ (also der Leute, mit denen der ECFR 2011 zusammenarbeitete) gegen die „guten, Demokratie liebenden Menschen“ zu verwenden. Leider war die Türkei weder am 14. noch am 16. Juli eine Demokratie, und die Tatsache, dass dazwischen ein blutiger Putschversuch stattfand – die Details dazu bleiben noch immer geheimnisumwittert – ändern an dieser einfachen Tatsache nichts.
Andererseits ist das Argument, dass Bildt und seine Kollegen engere Verbindungen zwischen der EU und der Türkei geschaffen hätten, einfach nur falsch, denn 1) die EU kooperiert bereits seit zwei Jahren mit der Türkei, wenn es ihren Interessen dient. z. B. um den Flüchtlingsstrom zu stoppen, und zwar ohne jede Skrupel hinsichtlich des immer autoritäreren Charakters des Regimes; 2) die EU kann nicht mehr aus moralischer Überlegenheit heraus argumentieren, da sie selbst immer stärker auf die dunkle Seite abgleitet; und 3) Erdoğan hat immer wieder bewiesen, dass er Druck von außen nicht nachgibt – er nutzt ihn üblicherweise zu seinem eigenen Vorteil, um das nationalistische Feuer zu schüren.
Zu pessimistisch? Tatsächlich: Gibt es vielleicht einen Spalt in der Mauer, durch den die Demokratie in die Türkei gelangen kann – nur um den Text zu Leonard Cohens bekanntem Song zu zitieren? Vielleicht, aber nicht in naher Zukunft.

Übersetzung von Heike Kurtz

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