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Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten

Kinderkrippe oder Großeltern? Die vorschulischen Betreuungsformen unterscheiden sich in den einzelnen Ländern maßgeblich. Dies hat erhebliche Folgen für die Parität.

Veröffentlicht am 13 November 2017 um 10:12

Investitionen in die frühen Lebensjahre sind für die gesamte Gesellschaft positiv. So lautet zumindest das seit Anfang der 2000er Jahre stets und ständig wiederholte Motto der europäischen Institutionen, die sich hierfür auf einen breiten wissenschaftlichen Konsens berufen können. Der allgemein vertretenen Meinung nach soll die Schaffung von Betreuungsplätzen für Kinder im Vorschulalter (mindestens) drei vorteilhafte Auswirkungen haben.
In allererster Linie wirkt sie sich positiv auf die Gleichstellung von Frauen und Männern aus, indem sie die Ersteren von den elterlichen Pflichten befreit, die ihnen noch immer größtenteils zugeschrieben werden. In gleichem Maße erweisen sich diese politischen Maßnahmen als wirksames Mittel zur Bekämpfung von Armut, indem sie – insbesondere den gering qualifizierten – Frauen dabei hilft, auf dem Arbeitsmarkt zu bleiben, und ihre Karrierechancen zu verbessern.

Schließlich leistet sie auch einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen das schulische Scheitern oder Ungleichheiten. Sowohl kollektive Betreuungsformen als auch Vorschulen sollen die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten, der Sprachkompetenz, und des Selbstvertrauens der Kinder fördern. All das trägt dazu bei, dass sie bestens auf die Erwartungen der Schule vorbereitet werden. Und weniger schulisches Scheitern bedeutet nun einmal weniger Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt, und damit ein niedrigeres Armutsrisiko im Erwachsenenalter.

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Die in dreifacher Hinsicht vorteilhafte Kleinkind-Politik wird oft als „soziale Investition“ präsentiert. Obwohl sie kostenintensiv ist, kann sie sich durchaus als „gewinnbringend“ erweisen, zumal sie dazu beiträgt, soziale Schwierigkeiten zu verhindern (Schulabbruch, Frauenarmut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität). Würden diese Probleme tatsächlich auftauchen, müsste man sie schließlich im Nachhinein lösen, was durchaus wesentlich kostspieliger sein könnte.
Dank der Verbesserung der Karrierechancen der Frauen, und der daraus resultierenden Steigerung ihrer Einkünfte im gesamten Erwerbsleben, kann der Staat sich seine Investitionen über die nunmehr erhöhten Steuereinnahmen zurückerstatten (höhere Sozialabgaben, Einkommenssteuern, usw.).
Den jüngsten verfügbaren Statistiken zufolge herrschen jedoch sehr große Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen Ländern. Dies gilt insbesondere für die ersten Lebensjahre: Die Betreuungsquote für Kleinkinder im Alter von 0 bis 2 Jahren reicht von 5 % bis zu 65 %. Allerdings ist es nicht möglich, an diesen Zahlen abzulesen, wie das Verhältnis von kollektiven Betreuungsformen (Krippen und anderen) und Einzelbetreuung (Tagesmütter) ist. Dabei werden aber vor allem Erstere gefördert, da sie die schulischen Fähigkeiten der Kinder weitaus besser entwickeln, insbesondere jener, die stark benachteiligt sind. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass diesbezüglich in den meisten Ländern große Ungleichheiten bestehen: Kinder aus wohlhabenden Familien sind stets besser gestellt als jene notleidender Familien. Eine Ausnahme stellen ein paar Länder wie Dänemark, Schweden oder Slowenien dar. Für Kinder im Alter zwischen 3 und 5 Jahren sind die Unterschiede im Bezug auf die Teilnahme an vorschulischen Programmen zwar weniger stark, aber durchaus bedeutsam. In Frankreich wird der Großteil aller alle drei- bis fünfjährigen Kinder eingeschult, während in Griechenland nicht einmal die Hälfte betroffen sind.

Aus chronologischer Perspektive betrachtet wird deutlich, dass die europäischen Länder ihre Bemühungen im Bereich Kleinkindalter im Großen und Ganzen intensiviert haben. Dennoch bestehen starke Unterschiede zwischen den Staaten. Vergleicht man den Anteil am BIP, der 2000 und 2013 für formelle Betreuungsformen und Vorschulen (vor dem 6. Lebensjahr) aufgewendet wurde, fällt auf, dass all jene Länder, die ihre Bemühungen um mehr als 1,5 vervielfacht haben, in Nordeuropa liegen. Einige von ihnen gehörten im Übrigen bereits zu den diesbezüglich führenden Ländern des Kontinents. Ferner lässt sich erkennen, dass die Kurven nach 2008 durchhängen, was ein Zeichen dafür ist, dass die Kleinkind-Politik unter der zu diesem Zeitpunkt ausbrechenden Finanzkrise gelitten hat.

Das Europa der Kleinkinder ist demnach alles andere als einheitlich vereint. Im Jahr 2013 variierte der Anteil des für sie aufgebrachten nationalen Vermögens (anhand des BIP gemessen) im Großen und Ganzen bis zu 300 %. Auch hier zeigt sich, dass Nordeuropa – wie so oft im Bereich der Familienpolitik – viel mehr in öffentliche und allgemeine Einrichtungen investiert als Südeuropa, während Mitteleuropa eher an traditionellen Regelungen festhält.
Das Investitionsniveau im Kleinkind-Bereich scheint in erster Linie an die Unterschiede zwischen den europäischen Sozialmodellen (https://www.alternatives-economiques.fr/protection-sociale-un-investissement-rentable/00037472) gekoppelt zu sein. Diese Erklärung reicht aber nicht aus. Eine jüngere Studie (http://www.strategie.gouv.fr/publications/places-creche-lallemagne-mieux-france-dix-ans) vergleicht die Dynamik der Schaffung von Krippenplätzen in Deutschland und Frankreich seit 2006, und macht deutlich, dass in Deutschland viel mehr getan wurde. Dieses Ergebnis ist vor allem auf folgende „Einsicht“ zurückzuführen: Macht man die Frauen allein für die Kinderbetreuung verantwortlich, führt dies sowohl zu Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt (starke Verbreitung weiblicher Teilzeitarbeit), als auch zu sehr niedrigen Geburtenraten (Anfang der 2000er Jahre 1,35 Kinder pro Frau). Berücksichtigt man darüber hinaus auch noch die schlechten Pisa-Ergebnisse der deutschen Schüler 2001, scheint die starke Mobilisierung für die Schaffung von Krippenplätzen eine logische Folge.
Im Vergleich dazu bietet Frankreich, das sowohl hinsichtlich der Fruchtbarkeit als auch der Frauenarbeit erfolgreicher abschneidet, bessere Betreuungskapazitäten. Der Grund dafür ist die starke Entwicklung der individuellen Betreuung (Tagesmütter). Allerdings hat es eine ganze Weile gedauert, bis man eingesehen hat, welch gravierende Ungleichheiten sein Schulmodell erzeugt, und wie wichtig es wäre, in kollektive Betreuungseinrichtungen zu investieren, um dem entgegenzuwirken.

Unterdessen heben die Autoren ganz besonders die Unterschiede der Regierungsformen der beiden Länder hervor. In Deutschland ermöglichte und vereinfachte man die Finanzierung und die administrativen Rahmenbedingungen für die Projektträger, die Krippen gründen oder ausbauen wollten. Zudem wurde 2013 ein einklagbarer Anspruch auf Kinderbetreuung (ab einem Alter von einem Jahr) eingeführt. Dies gewährt eine von den lokalen Behörden geleistete Entschädigung für die Eltern, die keinen Betreuungsplatz erhalten. Auf diese Weise wurde ein direkter Anreiz dafür geschaffen, auf die Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung einzugehen, die größtenteils kollektive Betreuungsformen möchten.

Im Gegensatz dazu scheint das französische Modell äußerst zersplittert: Viele verschiedene Protagonisten handeln, ohne sich dabei aufeinander abzustimmen, oder ein verbindliches Ziel zu verfolgen. Für den Rückgang des Deckungsgrades kollektiver Betreuungsformen zwischen 2006 und 2014 gibt es vor allem einen Grund: Die Zahl der eingeschulten zweijährigen Kinder ist in diesem Zeitraum aufgrund von Entscheidungen des Bildungsministeriums extrem zurückgegangen, was gleichzeitig zur entsprechenden Entwicklung der Krippenplätze führte (für welche die Gebietskörperschaften verantwortlich sind).
Für die Entwicklung und Effizienz der Kleinkind-Politik sind die institutionellen Faktoren demnach von ganz zentraler Bedeutung. Die leistungsfähigsten Systeme sind in der Tat meist am einheitlichsten strukturiert, d. h. von ihrer Geburt an bis zu ihrem sechsten Lebensjahr durchlaufen die Kinder einen institutionellen Prozess. Neben dem bereits zitierten Deutschland gibt es nur sieben weitere Länder, die ebenfalls ein Recht auf Kleinkind-Betreuung gesetzlich verankert haben: Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark, Estland, Slowenien und Malta. Zweifelsohne benötigt die Entwicklung des Betreuungsangebotes für Kleinkinder nicht nur finanzielle Investitionen, sondern vor allem auch weitreichende politische Entscheidungen. Und diese zu treffen sind längst noch nicht alle europäischen Ländern bereit.

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