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Hoher Einsatz, müder Wahlkampf

In Berlin kennt man kurz vor der Europawahl keine Parteien mehr, nur noch Europäer. Doch das könnte sich rächen. Die Wähler wenden sich gelangweilt ab, die SPD fürchtet herbe Verluste. Auch die CDU hat Grund zu Sorge

Veröffentlicht am 23 Mai 2019 um 10:34
Miguel Ángel García  | Berlin.

Selten war eine Abstimmung in Deutschland mit derart hohen Erwartungen befrachtet wie die Europawahl 2019. Aus deutscher Sicht geht es nicht nur um den Spitzenkandidaten Manfred Weber (CSU), der von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) persönlich zu seiner Bewerbung ermuntert wurde. Weber soll sicherstellen, dass zum ersten Mal seit Walter Hallstein in den 50er Jahren wieder ein Deutscher die EU-Kommission in Brüssel führt.

Politik und Medien präsentieren die Abstimmung auch als Schicksalswahl, bei der es um die Verteidigung von Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa gehe. Die Regierungsparteien CDU, CSU und SPD, aber auch Grüne und Liberale greifen dabei zu immer denselben Argumenten. Deutsche und europäische Interessen gingen Hand in Hand, betont Außenminister Heiko Maas (SPD).
In Berlin kennt man keine Parteien mehr, sondern nur noch Europäer. Mobilisierend wirkt dies nicht - im Gegenteil. Die Wähler können jedenfalls kaum noch Unterschiede erkennen. Mehr als 50 Prozent der Anhänger von CDU/CSU und SPD haben in einer Umfrage erklärt, die Parteien unterschieden sich in ihren Inhalten vor der Europawahl „weniger stark“ oder „gar nicht“ voneinander.
Statt um die Europapolitik kreiste die Debatte in Berlin tagelang um die Forderung des Chefs der Jungsozialisten (dem Jugendverband der SPD), den deutschen Autohersteller BMW zu „vergemeinschaften“. Die Christdemokraten brandmarkten dies als Rückfall in den Sozialismus - und lenkten so von eigenen Schwächen ab. Ihr Spitzenkandidat Weber kann nämlich bisher nicht einmal in Deutschland überzeugen. Nur jeder Vierte kennt seinen Namen.

Auch die täglichen TV-Debatten haben den müden Wahlkampf nicht beleben können. Die Einschaltquoten sind miserabel, eine kontroverse Debatte findet nicht statt. Dabei wäre es gerade im größten EU-Land wichtig, über Alternativen und Perspektiven zu diskutieren. Warum hat Merkel die Reformideen von Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron nicht aufgegriffen? Warum hält sie am Status Quo fest?

Dies wären Fragen, auf die man sich Antworten wünschte. Schließlich greift Berlin nach dem wichtigsten Amt in Brüssel. Und viele EU-Partner wollen endlich Klarheit über den künftigen deutschen Kurs. Doch die Debatte nahm eine andere Richtung. In den letzten Tagen vor der Wahl standen zwei Themen im Vordergrund: die Klimapolitik und der Umgang mit den Rechtspopulisten von der AfD.

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Die Grünen haben die Europawahl zur „Klimawahl“ erklärt und eine CO2-Steuer gefordert. Die deutsche Spitzenkandidatin Ska Keller stieß mit dieser Forderung zwar auf Ablehnung. Das hindert die Grünen jedoch nicht daran, in den Umfragen kräftig zuzulegen. Zuletzt lagen sie auf dem zweiten Platz - hinter CDU/CSU, aber vor der SPD.

Das zweite große Thema ist der Umgang mit der AfD. Nach dem FPÖ-Skandal in Österreich haben sich alle anderen Parteien darauf festgelegt, nicht mit den Rechtspopulisten zusammenzuarbeiten. Auch CDU und CSU haben sich von der AfD abgegrenzt. Dies kann jedoch noch zum Problem werden. Denn bei den Landtagswahlen im Herbst könnte die AfD vor allem in Ostdeutschland so stark zulegen, dass ohne sie keine Regierung möglich ist.

Zunächst konzentriert sich die Aufmerksamkeit aber auf die SPD. Sollten die Sozialdemokraten am Sonntag tatsächlich hinter die Grünen zurückfallen, so könnte dies die Große Koalition mit den Christdemokraten erschüttern. Aber auch die CDU blickt mit Sorge auf die Wahl. Für die neue CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer ist es nämlich ihr erster Wahlkampf. Wenn die CDU verliert, wäre sie geschwächt - und Merkel gestärkt.

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