Royal Opera House | Flickr

Wie viel wird uns die arktische Eisschmelze kosten?

Die von den Satelliten der Europäischen Weltraumorganisation gesammelten Daten werden nicht nur verwendet, um die Auswirkungen der globalen Erwärmung auf die Polarregionen zu untersuchen, sondern auch, um die Folgen vorherzusagen, die schmelzendes Eis und ein steigender Meeresspiegel in den nächsten hundert Jahren auf unsere Wirtschaft haben werden.

Veröffentlicht am 18 Mai 2019 um 11:17
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Wenn der Planet immer heißer wird, verursacht das schmelzende Eis für die EU steigende Kosten.

So weit entfernt es vom Alltag der Bürger auch erscheinen mag, der arktische Eisrückgang wirkt sich mehr auf ihre Geldbörsen aus, als sie wirklich wissen. Seit der letzten Eiszeit hatten sich in den nördlichsten Ländern überdimensionale Tonnen gefrorenes Wasser sicher verankert. Nun werden die Steuerzahler sowie ihre Regierungen von deren unerbittlichen Umwandlung in verheerende Überschwemmungen und Unternehmen hart getroffen.

Eine umfassendeAnalyse der möglichen Auswirkungen wurde 2018 von einem Expertenteam der Gemeinsamen Forschungsstelle der Europäischen Kommission erstellt.

Bis zum Ende des Jahrhunderts wird jeder Quadratmeter Eisschwund zu einer Gesamtmenge von fast einer Billion Euro führen, wie die Expertenanalyse zeigt. Das am stärksten betroffene Land ist das Vereinigte Königreich, gefolgt von Frankreich und Italien.

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Das gleiche Team arbeitet derzeit an einer neuen Studie, in der die Kosten für die Anpassungsmaßnahmen zur Minderung möglicher Verluste geschätzt werden. Diese Maßnahmen beinhalten allerwenigstens die Errichtung oder Verstärkung von schützenden Bauten, die dem Anstieg des Meeresspiegels standhalten können.

„Auf kurze Sicht wird der Anstieg des Meeresspiegels hauptsächlich durch die Ausdehnung der Wassermassen aufgrund zunehmender Hitze verursacht. Ab 2050 wird der Anteil von schmelzendem Eis aber vergleichsweise größer werden“, erklärt Michalis Vousdoukas, Ozeanograph in der Abteilung Katastrophenrisikomanagement (Disaster Risk Management Unit) der Gemeinsamen Forschungsstelle. „Die Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen der Eisschmelze und ihren finanziellen Folgen ist eine Tatsache, aber nicht ausdrücklich linear: Leichte Anstiege des Wasserspiegels mögen keine signifikanten Auswirkungen haben, aber ihre progressive Anhäufung wird Folgen haben, zumal sie in Kombination mit Hochwasser und wiederkehrenden extremen Wetterereignissen (Sturmflut und Wellenschlag) auftreten werden.“

Ein Großteil der europäischen Küstenlinie, die sich über mehr als 100.000 km erstreckt, ist dicht besiedelt und hochentwickelt. Dadurch ist sie anfällig für zunehmende Meeres-Überschwemmungen.

Auf der Grundlage des jüngstenBerichts des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (Intergovernmental Panel on Climate Change, kurz IPCC) hat die Europäische Umweltagentur einSzenario entworfen, laut dem der Meeresspiegelanstieg in Europa dem globalen Durchschnitt entsprechen wird. Bis zum Ende des 21. Jahrhunderts wird der Anstieg im Vergleich zum Zeitraum 1986-2005 wahrscheinlich im Bereich von 0,28-0,61 m oder 0,52-0,98 m liegen, wenn man von niedrigen bzw. hohen, vom Menschen verursachten Kohlenstoff- (oder Treibhausgas-)Emissionen ausgeht. Diese Prognosen werden bis Ende 2019 im Einklang mit dem für September geplantenSonderbericht des IPCC über Klima, Ozeane und Eisvariationen überarbeitet.

Die aktuellsten Warnungen über den Schwund des arktischen Eises werden auf dem kommendenLiving Planet Symposium vorgestellt, das vom 13. bis 17. Mai in Mailand stattfindet. Spitzenwissenschaftler werden ihre neuen Erkenntnisse aus Satellitendaten veranschaulichen, einschließlich derjenigen, die überCryoSat gewonnen wurden, das Eis-Überwachungsprogramm der Europäischen Weltraumorganisation (ESA). Die alle drei Jahre stattfindende Veranstaltung ist ein Schaufenster für Erdbeobachtungs-Technologien, die zur Erforschung von Klima und Ökosystemen, sowie zur Umsetzung öffentlicher und kommerzieller Dienstleistungen beitragen.

„Die polare Eisdecke ist gleichzeitig ein frühes Opfer der globalen Erwärmung und ein wesentlicher Akteur bei der Regulierung der Meteorologie und des Meeresspiegels auf globaler Ebene. Infolgedessen sind die Auswirkungen der schrumpfenden Masse weitreichend“, erklärt Tommaso Parrinello, CryoSat-Missionsmanager. „Es ist wichtig, genau zu verstehen, wie und in welchem Ausmaß die Eisfelder der Erde auf die kontinuierlichen Klimaveränderungen reagieren.“

Die Folge: Die Messung der finanziellen Kosten

Experten der Gemeinsamen Forschungsstelle der EU haben es geschafft, wissenschaftliche Prognosen über schrumpfendes Eis und expandierendes Wasser – basierend auf Satellitenmessungen – in Zahlungsmittel umzuwandeln. Die folgenden Infografiken erläutern die jährlichen Verluste für das BIP und die Schäden für die Betroffenen – entsprechend den verschiedenen Szenarien, die auch alsSocioeconomic Pathways (Sozioökonomische Pfade) oder SSPs bekannt sind: Eine „moderate“-Welt, in der Trends weitgehend ihren historischen Mustern folgen; eine fragmentierte Welt des „wiederauflebenden Nationalismus“; und eine Welt des schnellen und uneingeschränkten Wachstums der Wirtschaftsleistung und des Energieverbrauchs.

Ohne weitere Investitionen in die Küstenanpassung werden die derzeitigen jährlichen Schäden in Höhe von 1,25 Milliarden Euro bis zum Ende des Jahrhunderts um das 75- bis 770-fache höher ausfallen: Zwischen 93 und 961 Milliarden Euro, je nachdem, wie sich die sozioökonomischen Tendenzen im Laufe der Zeit entwickeln.

Abhängig von diesen gleichen Trends werden die Küsten-Überschwemmungsschäden bis 2050 0,06 bis 0,09 Prozent des europäischen BIP ausmachen. Verglichen mit den derzeitigen durchschnittlichen Schäden von rund 0,01 Prozent des BIP werden diese bis 2100 auf 0,29-0,86 Prozent des BIP ansteigen.

Die jährliche Zahl der von Küsten-Überschwemmungen betroffenen Menschen wird bis zum Ende des Jahrhunderts von derzeit 102.000 auf 1,52-3,65 Millionen steigen (wiederum ohne weitere Anpassungsmaßnahmen und in Abhängigkeit von unterschiedlichen sozioökonomischen Trends).

Die künftigen Schäden werden auch stark von der Anzahl der Menschen abhängen, die an die Küste ziehen, sowie dem Ausmaß der infrastrukturellen Entwicklung in diesen Gebieten. Die Verluste werden das Ergebnis der Migration an die Küste sein, was zu Urbanisierung und Vermögenswerten führt, die ihren Wert im Laufe der Zeit aufgrund extremer Wetterereignisse schnell verlieren werden.

Die Ursache: Die Messung der Eisschmelze

Was den Eisrückgang betrifft, so spielt Grönland eine führende Rolle in der bevorstehenden Öko-Finanzkrise. Die größte Insel der Welt umfasst den größten Teil des arktischen kontinentalen Eises. Laut einemBericht desGlobalen Klimaforschungsprogramms ist ihre schmelzende weiße Decke der drittgrößte Faktor für den globalen Meeresanstieg. Zwar liegt sie hinter der thermischen Ausdehnung des Wassers und den Gebirgsgletschern, aber immer noch vor der Eiskappe der Antarktis (deren Beitrag in einigen hundert Jahren deutlich zunehmen dürfte).

Im Gegensatz zum kontinentalen Eis hat das Schmelzen des Meereises, welches das arktische Becken weit über Grönland hinaus füllt, keinen Einfluss auf den Anstieg des Meeresspiegels. Das ist wie mit einem Eiswürfel in einem Glas Wasser: Wenn er schmilzt, steigt der Wasserspiegel im Glas nicht an (archimedisches Prinzip).

Eineaktuelle Analyse der Abteilung für Geodynamik des Dänischen Weltrauminstituts, die alle Satelliten-Messwerte zwischen 1992 und 2016 kombiniert, zeigt eine beschleunigte Ausdünnung des grönländischen Eisschildes. Sein Massenverlust hat sich seit den 1980er Jahren versechsfacht und der Meeresspiegel ist seit 1972 um 13,7 mm gestiegen, die Hälfte davon in den letzten acht Jahren, wie eine neue, Ende April veröffentlichte Studie der University of California zeigt. Was den Höhenverlust des Inlandeises betrifft, so wird der bisher umfangreichste Datensatz derzeit vomGreenland Ice Mapping Project entwickelt, dessen Ergebnisse in den kommenden Monaten veröffentlicht werden.

Wenn alle Eisspeicher Grönlands schmelzen würden, wüchse das Meerwasser um 7 Metertonnen an. Das ist die Prophezeiung, die ineiner im Rahmen desESA Seal Level Projekts erstellten Studie vorhergesagt wurde. Für einen Anstieg einer solchen Größenordnung braucht es jedoch Jahrtausende, selbst bei einem Temperaturanstieg über 2°C seit dem vorindustriellen Zeitalter. Dies ist der kritische Schwellenwert, zu dessen Einhaltung sich die Regierungen bei der Unterzeichnung des Übereinkommens von Paris 2016 verpflichtet haben.

Die Methodik: Die Messung der Fehler

Der Schlüssel zur Überwachung der sich verändernden Umwelt der Erde liegt darin, über Jahrzehnte hinweg die gleichen Messungen durchzuführen. Je genauer die Satellitendaten sind, desto realistischer werden die Schätzungen zum Eisrückgang, zum Meeresspiegelanstieg und zu den wirtschaftlichen Kosten sein. Deshalb muss die Satellitenbeobachtung regelmäßig angepasst und geprüft werden, indem ein bestimmter Satz von Variablen berücksichtigt wird. Insbesondere die Schneedecke auf dem Eis ist ein entscheidender Faktor: Satelliten-Höhenmesser können sie nicht immer erkennen und interpretieren diese letzten Endes als Teil der gesamten Eisschicht. Daher muss die Schneehöhe ausgleichend verrechnet werden, um die tatsächliche Eisdicke zu berechnen.

Um solche Fehler zu korrigieren und Ungewissheiten abzubauen, setzen sich ESA und NASA für eine verstärkte Koordinierung ihrer Weltraum-Beobachtungssysteme ein. Glücklicherweise bieten die europäischen und US-amerikanischen Satelliten aufgrund technologischer Unterschiede ergänzende Messungen an. DerICESat-Höhenmesser der NASA sendet ein Laser-Signal, das von der Schneeoberfläche abprallt, während der CryoSat-Höhenmesser der ESA über ein Radar verfügt, das den Schnee durchdringt und von der Eisoberfläche abprallt. Theoretisch sollte die Differenz zwischen den beiden Messungen demnach die Schneehöhe bestimmen.

ESA und NASA arbeiten bereits gemeinsam an der Kalibrierung ihrer jeweiligen Satellitenmessungen durch Vor-Ort-Kontrollen in der Luft und auf dem Boden arbeitende Teams. Dabei werden sowohl in der Luft als auch am Boden riesige und vielfältige Datensätze von Schnee und Eis mit einer Reihe von Instrumenten gesammelt, die anschließend mit den Daten aus dem Weltraum verglichen werden.

Die jüngsten gemeinsamen Kalibrierungs-Aktionen wurden im März und April dieses Jahres von derTechnischen Universität Dänemark in ganz Nordgrönland durchgeführt, und zwar im Rahmen der InitiativenIcebridge der NASA undCryoVEX der ESA.

Die Planung von Bodenuntersuchungen während dieser Kampagnen bedeutet, Wissenschaftler in die unfreundlichsten Regionen der Erde zu entsenden. Die Aufgabe ist manchmal so riskant, dass nur ausgeprägte Abenteurer es wagen, diese zu unternehmen. Zwei erfahrene Polarabenteurer aus Belgien, Alain Huber und Dixie Dansercoer, haben sich für dieArctic Arc Expeditionzusammengeschlossen, d. h. die längste CryoSat-Kalibrierungs-Kampagne, die je zu Fuß durchgeführt wurde. Im Jahr 2008 waren sie die ersten Männer, die den ganzen Weg um den Nordpol von Sibirien nach Grönland reisten: Sie wanderten 100 Tage und erkundeten unterwegs die Schneehöhen. „Ich glaube, dass die Erfahrung von Forschern der Wissenschaft helfen kann, unter den ungünstigsten Bedingungen zu arbeiten“, meint Dansercoer.

Satellitenbilder

„Weltraum-Wächter“ des europäischen Klimawandels

CryoSat der ESA ist die erste europäische Mission, die ausschließlich der Messung von Veränderungen im gefrorenen Polarmeer und in den Eisdecken um Grönland und die Antarktis gewidmet ist.

Das Programm wurde 1999 geplant, aber der ursprüngliche Satellit ging aufgrund eines Startfehlers im Oktober 2005 verloren. Ein neuer Satellit, allgemein als CryoSat-2 bezeichnet, wurde später mit einer Reihe von Verbesserungen gebaut und am 8. April 2010 gestartet.

Der Satellit fliegt in einer Höhe von etwas mehr als 700 km und erreicht Breitengrade von 88° Nord und Süd, um die Abdeckung der Pole zu maximieren. Seine Hauptnutzlast stellt ein Instrument namens Synthetic Aperture Interferometric Radar Altimeter (SIRAL). Bisherige Radarhöhenmesser waren für den Einsatz über Ozeanen und auf dem Boden optimiert worden. SIRAL aber ist der erste Sensor seiner Art, der für Eis entwickelt wurde. Er misst Veränderungen an den Rändern von riesigen Eisdecken und schwimmendem Eis in Polarmeeren.

Der Radarhöhenmesser ist nicht nur in der Lage, winzige Höhenunterschiede des Eises zu erkennen, sondern kann auch den Meeresspiegel sowie andere physikalische Parameter mit beispielloser Genauigkeit messen, um der Forschungsgemeinschaft im Rahmen derESA Climate Change Initiative neue Daten zur Verfügung zu stellen.

Vor dem Start des CryoSat-Programms hatte die ESA eine Eisdecken-Überwachung mit Mehrzweck-Satelliten durchgeführt. Der erste war Envisat, der 2002 gestartet wurde, die damals größte zivile Erdbeobachtungs-Mission. Envisat, der seine Aktivität am 8. April 2012 nach dem unerwarteten Kontaktverlust mit dem Satelliten beendete, verfügte über fortschrittlichere bildgebende Radar-, Radarhöhenmesser- und Temperaturmess-Geräte als seine Vorgänger: Die europäischen Fernerkundungssatelliten ERS-1 und -2, die 1991 bzw. 1995 in die gleiche Umlaufbahn gebracht wurden.

Neben Cryosat betreibt die ESA auch die Mission Sentinel-3, die, wie die beiden Satelliten Sentinel 1 und 2, aus zwei Zwillings-Satelliten besteht, die Daten liefern, die für das Umweltüberwachungs-ProgrammCopernicus erforderlich sind, d. h. das EU-Erdbeobachtungsprogramm, das ebenfalls von der ESA betrieben wird.

Sentinel-3A wurde 2016 gestartet und misst die Eisbedeckung sowie die Atmosphäre, die Ozeane und den Boden, um wichtige Informationen für Meeresoperationen und mehr zu liefern. Sein Zwilling, Sentinel-3B, wurde im April 2018 gestartet. Im vergangenen Jahr umkreisten die beiden Satelliten über einen Zeitraum von vier Monaten in Zusammenarbeit, nachdem sie dicht beieinander positioniert wurden und nur 30 Sekunden oder 223 Kilometer Entfernung voneinander flogen.

Der Grund hierfür: Es sollte herausgefunden werden, wie sich ihre Instrumente im Vergleich zueinander verhalten. Auch wenn die beiden Satelliten identisch sind, besteht die Möglichkeit, dass sich ihre Instrumente leicht unterschiedlich verhalten. Es ist wichtig, dass mögliche Unterschiede sorgfältig berücksichtigt werden, da sonst alle Informationen, die sie liefern, als Veränderungen an der Erdoberfläche falsch interpretiert werden könnten. Mit anderen Worten: Das Verständnis kleiner Unterschiede zwischen den einzelnen, aufeinander folgenden Satelliten-Instrumenten beeinflusst die Fähigkeit der Wissenschaftler, Klimatrends genau zu bestimmen.

Nach der Tandem-Phase wurden die beiden Satelliten wieder vorsichtig auseinander bewegt, bis sie ihren funktionalen Trennungsabstand von 140° erreichten.

Cet article est publié en partenariat avec the European Data Journalism Network

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