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Eine wahrhaftige europäische Demokratie fängt mit gleichen Rechten für alle an

Für die Universitätslehrerin Ulrike Guérot sollte das aus dieser Wahl hervorgehende Europäische Parlament in erster Linie die Gleichberechtigung der europäischen Bürger gewährleisten, und zwar durch einen neuen Verfassungsprozess.

Veröffentlicht am 26 Mai 2019 um 08:07
Miguel Ángel García  | Europa1.

Im gegenwärtigen EU-Wahlprozess haben europäische Bürger die Führung übernommen: Sie sind auf den Straßen Europas unterwegs, organisieren Demonstrationen (z. Bsp. European May oder #oneEuropeforAll), veranstalten Roadshows („European Alternatives“), bieten kostenlose Interrail-Fahrten für Jugendliche an, schreiben ein Manifest nach dem anderen (VoxEurop, EuropaNow!, fordern, wie Civico Europa, eine neue europäische Renaissance und vieles andere mehr).

Zudem wurden transnationale Parteien (Volt, DiEM25,European Spring) gegründet. Und jeden Sonntag sind sie um 14 Uhr auf den Märkten in ganz Europa präsent, wiePulseofEurope. Ferner verteilen die österreichische Rockband Bilderbuch und der deutsche Komiker Jan Böhmermann online virtuelle europäische Reisepässe.

Bei dieser Europawahl hat es eine beispiellose Mobilisierung der Bevölkerung gegeben, und sie scheint zu funktionieren: 59 Prozent der polnischen Bürger wollen zu den Wahlurnen gehen. Das wären doppelt so viele wie 2014. Ebenso sagen 69 Prozent der Deutschen, dass sie zur Wahl gehen werden, was einer Steigerung der Wahlbeteiligung um 20 Prozent entsprechen würde. Noch nie hat die Europäische Kommission so viel Zeit und Geld für Kommunikation und Veranstaltungen aufgewendet, um die Vorteile und Herausforderungen der EU zu diskutieren. U

nd nicht nur die Kommission: Stiftungen, Parteien, Gemeinden, Akademien, Gewerkschaften, Institute – sie alle haben in den vergangenen drei Monaten Gespräche und Debatten mit Bürgern in ganz Europa organisiert. Und bezeichnenderweise hat Emmanuel Macron, der seinen Vorschlag zur Reform der EU in 28 Zeitungen in der gesamten EU veröffentlichte, nicht mit den Worten begonnen: „Sehr geehrte Frau Merkel, sehr geehrter Herr Rutte oder sehr geehrter Herr Kurz, lassen Sie uns mehr für die europäische Integration tun.“ Nein, vielmehr wandte er sich direkt an die „Europäischen Bürgerinnen und Bürger“…

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Die Rückkehr, oder besser gesagt – die späte Anerkennung – der entscheidenden Rolle der europäischen Bürger für die europäischen Anstrengungen ist eine erfreuliche Wendung des Schicksals: Nicht die Staaten, sondern die Bürger stellen die Souveränität eines wirklich demokratischen Systems dar.

Diese Wahlen stellen einen Paradigmenwechsel dar: Während die Vereinigten Staaten von Europa die Integration von Nationalstaaten erforderlich machen, betrifft die Fokussierung auf die europäischen Bürger die europäische Demokratie selbst. Der Unterschied ist bemerkenswert: Er macht das europäische Projekt für alle Bürger zugänglich. Erinnern wir uns nur an die berühmten Worte von Jean Monnet: In Europa geht es nicht um die Integration von Staaten, sondern um die Verbindung von Menschen. Darum geht es im Europa des Jahres 2019. Während es von identitätsbestimmenden, populistischen oder nationalistischen Kräften angegriffen wird, erheben sich immer mehr europäische Bürger, um Europa zu verteidigen.

Deshalb ist eine kritische Lektüre der Daten notwendig. The Guardian berichtete kürzlich, dass die Mehrheit der europäischen Bürger davon überzeugt ist, dass die EU im Jahr 2040 nicht mehr in ihrer heutigen Form existieren wird. Laut ECFR und You.Gov befinden nur 24 Prozent der Europäer die EU in ihrem aktuellen Zustand für gut. 62 Prozent meinen, dass sowohl die EU als auch ihre nationale Demokratie zum Scheitern verurteilt sind. Doch in keiner einzigen dieser Umfragen sagen die Bürger, dass sie sich nicht europäisch fühlen oder dass sie Europa nicht „mehr“ oder selbst kein anderes Europa wollen.

Abneigung gegen die derzeitige EU bedeutet nicht, dass Europa abgelehnt wird! Es bedeutet nur, dass die meisten Europäer ein anderes, sozialeres und demokratischeres Europa wollen. Auf einer Skala von 0 (schlecht) bis 10 (gut) bewertet die Mehrheit der Europäer die EU mit etwa 5: Zu gut, um auszusteigen; zu schlecht, um damit zufrieden zu sein. Die eigentliche Frage ist demnach: Wie kann man die Zufriedenheit mit der EU von 5 auf 10 steigern?

Mein Vorschlag lautet: Lasst uns die europäischen Bürger ernst nehmen! Lasst uns dem „Sinn für Europa“ von Allen vertrauen! Lasst uns die vollständige Parlamentarisierung des europäischen politischen Systems anstreben! Und lasst uns endlich dem Konzept des „Bürgers“ gerecht werden. „Bürger“ und „Bürgerschaft“ bedeuten mehr als nur die Zugehörigkeit zu Europa, die Wertschätzung anderer europäischer Kulturen und das gemeinsame Festhalten an den gleichen Wertvorstellungen. Bürger zu sein bedeutet vor allem, die gleichen Rechte zu haben. Wenn die Begriffe „europäischer Bürger“ und „europäische Bürgerschaft“ ernst genommen werden, muss das Denken über die Zukunft Europas mit den Bürgern im Mittelpunkt stehen, und zur Forderung nach einem neuen Verfassungsprozess führen. Mit den Worten von Alexander Hamilton: Ohne Verfassung „ist alles nichts“.  

Was wir uns vorstellen sollten, ist eine europäische Demokratie, in der folgende Prinzipien gelten: Die Bürger sind die Souveräne des politischen Systems. Sie sind alle vor dem Gesetz gleich. Das Parlament spielt eine entscheidende Rolle, und es herrscht Gewaltenteilung. Jede Demokratie muss der notwendigen (wenn auch nicht ausreichenden) Bedingung gerecht werden, dass alle Bürger gleich sind: In Bezug auf die Wahlen, die Besteuerung und den Zugang zu sozialen Leistungen. Historisch betrachtet ist die Wahlgleichheit, d. h. „eine Person, eine Stimme“ („one man, one vote“) die wichtigste Voraussetzung für eine Demokratie und die Zusammensetzung jedes einzelnen Wahlgremiums. Gemäß den Worten des französischen Soziologen Pierre Rosanvallons sind allgemeine, geheime, direkte und gleiche Wahlen dementsprechend das „heilige Ritual“ der Bürger, bzw. ihre Krönung.

Die Anwendung des Grundprinzips der Gleichheit auf alle Europäer würde den europäischen Binnenmarkt und die europäische Währung in einer gemeinsamen europäischen Demokratie verankern. Dies würde einen Quantensprung vom reinen Binnenmarkt und der Währung zur politischen Einheit Europas bedeuten, wie es die Gründer des Projekts wollten. Dabei ist zu beachten, dass sich der Begriff der Bürgerschaft unabhängig von Identität und Kultur versteht: Die rechtliche Gleichstellung erfordert keinen, bzw. bildet keinen Zentralstaat. Eine vollwertige Unionsbürgerschaft würde keinesfalls die Identität von irgendjemandem aufheben.

Der Vertrag von Maastricht versprach de facto eine „Union der Staaten“ und eine „Union der Bürger“. Allerdings kam nur die Erste wirklich zustande. Ein konkretes Beispiel hierfür: Die britischen Bürger, die jetzt vom Brexit betroffen sind, würden – theoretisch – europäische Bürger bleiben wollen, wenn eine solche Bürgerschaft eine juristische Wirklichkeit wäre, und zwar unabhängig von der Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU. Der Brexit hat grausam klar gemacht, wie hohl die „Europäische Bürgerschaft“ gegenwärtig ist. Tausende britische Bürger, die in Kontinentaleuropa leben, werden davon betroffen sein, ebenso wie alle europäischen Bürger, die im Vereinigten Königreich leben und arbeiten. Ganz zu schweigen von den Schotten, die sich für den Erhalt ihrer Europäischen Bürgerschaft ausgesprochen haben.

Wenn die EU den Brexit überlebt und bereit ist, aus diesem Chaos Lehren zu ziehen, sollte diese Lektion wie folgt lauten: Lasst uns an einer europäischen Verfassung arbeiten, die wir 2003 versäumt haben. Diesmal müssen wir als Bürger über diese europäische Verfassung abstimmen – wir alle – 500 Millionen. Einen solchen Prozesses anzustoßen wäre das edelste und wichtigste Projekt des zukünftigen Europäischen Parlaments.

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