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Die Siegesparade in Minsk, am 9. Mai 2020.

Leben und Hoffen in der Pandemie

In Minsk veranstaltete Präsident Lukashenka die traditionelle Siegesparade am 9. Mai, als ob es das Virus nicht gebe. Obwohl das Regime die Bürger immer noch zur Teilnahme an derartigen Paraden zwingen kann, so hat es doch die Kontrolle über den digitalen Raum verloren, in dem sich vor allem Protest zu formieren beginnt. In Belarus ist die autoritäre Methode offenbar nicht die Lösung, meint Iryna Vidanava.

Veröffentlicht am 4 Juni 2020 um 09:00
БелТА | YouTube  | Die Siegesparade in Minsk, am 9. Mai 2020.

Ein grauer, kalter Regentag. Mich friert in meinem leichten Sommerkleid, während wir darauf warten, bis wir dran sind mit unserem Tanz, auf der Parade zum Ersten Mai in Minsk. Als wir im Walzerschritt an der Tribüne vorbeitanzen, auf der die Obersten des Staates sich drängen, fällt mir auf, dass sie alle gut einpackt sind in Mänteln, Handschuhen und Hüten. Am Ende des riesigen Platzes wartet meine Großmutter auf mich. Meist lächelt sie, aber heute sieht sie besorgt aus, als sie mich in eine warme Jacke hüllt. Sobald wir zuhause sind, drängt sie mich in die Dusche, seift mich ein und schrubbt mich kräftig ab. Es ist der 1. Mai 1986, fünf Tage nach der Explosion im Atomkraftwerk von Tschernobyl. Noch immer gibt es keine offiziellen Nachrichten über das Disaster, und die Regierung vertuscht die Wahrheit, aber alle flüstern, dass etwas Schreckliches passiert ist.

Diese Kindheitserinnerung überfiel mich, als ich die surrealen Bilder von der diesjährigen Siegesparade am 9. Mai sah, die trotz der Coronavirus-Pandemie abgehalten wurde. Umringt von alten Veteranen – keiner von ihnen mit Maske – ließ der belarussische Dauerpräsident Lukaschenka in seiner Armeeuniform stolz Hunderte von Soldaten und Studenten an einer Menschenmenge mitten in Minsk vorbeimarschieren. In seiner Ansprache tönte er: “Wir hatten keine andere Wahl, und hätten wir eine gehabt, wir hätten es genau so gemacht.” Wir schuldeten unser Leben, behauptete er, all denen, die im Krieg starben.

Die Parade und Lukaschenkas Rede haben weithin Empörung ausgelöst. Anders als 1986 sind die Belarussen heute über die Gefahr und das Ausmaß der Corona-Krise in Belarus und anderswo dank Internet und Smartphones gut informiert. Die öffentliche Meinung war: Unsere Großeltern, die für uns litten, würden nicht wollen, dass wir an einem Virus sterben, dessen Verbreitung von einer Parade befördert wurde.

Noch immer kann das autoritäre Regime die Bürger dazu zwingen, bei Paraden anwesend zu sein und zu marschieren, aber es hat die Kontrolle über die Informationskanäle verloren. Ganz in der sowjetischen Tradition versuchte der Staat zunächst, die Nachrichten über das Virus im Keim zu ersticken. Aber die Menschen begannen damit, ihre Erfahrungen online zu stellen, und so verbreiteten sich Berichte wie ein Lauffeuer über die sozialen Netzwerke, Messengerdienste und online-Portale. Unabhängige Journalisten veröffentlichten Corona-Geschichten über ganz normale Leute und offenbarten den schlechten Zustand des Gesundheitssystems und die fehlenden Mittel, um Patienten und Personal zu schützen. Indem sie pausenlos Untersuchungen bei den staatlichen Institutionen anstrengten und unangenehme Fragen an Vertreter des Staates richteten, gelang es ihnen, die Informationsblockade der Regierung zu brechen und die zuständigen Stellen zu zwingen, regelmäßige Updates zu veröffentlichen. Dennoch fährt der Staat fort, zu vernebeln, seiner Verantwortung auszuweichen und zu versuchen, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Wenn das Staatsfernsehen versichert, die Situation sei unter Kontrolle, wissen die Leute hier nur zu genau, dass die Lage wirklich übel ist. Sie haben von diesem Regime gelernt, dass sie in diesen Zeiten keine andere Wahl haben, als selbst die Initiative zu ergreifen. Und das haben sie getan.

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Während Lukaschenka hohle Bestellungen von Schutzausrüstung ankündigte, die niemand besaß – Luftrütteln mit leeren Worten, wie meine Großmutter immer sagte – und Ärzten an vorderster Front die Schuld dafür gab, dass sie sich infiziert hatten, starteten Freiwillige mit Hochdruck eine Crowdfunding-Kampagne, kauften Tausende von Atemschutzmasken mit Filtern und verteilten sie binnen weniger Tage an Krankenhäuser im ganzen Land. Einige der angesagten Restaurants in der Hauptstadt, zu deren Kunden vor allem Hipsters gehörten, stellten um auf kostenlose Mahlzeiten und abgepackte Imbisse für das medizinische Personal.

Der Hackerspace Tech Club von Minsk entwarf und fertigte mit 3D-Druckern Plastikvisiere für Mitarbeiter im Gesundheitswesen. Eine beliebte örtliche Modefirma stellte wiederverwendbare Schutzkleidung her. Ein Tech Startup, das VR-Anzüge entwirft, produzierte Masken. Hunderte privater Unternehmen und Tausende von Bürgern spendeten Geld, um einzelne Opfer und medizinische Versorgungszentren zu unterstützen. Verschiedene Bürgerinitiativen vereinigten sich zu der nationalen Kampagne #BYCOVID19 und sammelten in 45 Tagen 250.000 Dollar – in einem der ärmsten Länder Europas.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten hat das Regime versucht, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu unterdrücken, durch die Organisation von Scheinwahlen, den Aufbau einer Propagandamaschine, die Kontrolle des privaten Sektors und andauernde Repressionen. Trotzdem erleben wir heute, dass all dies nichts gefruchtet hat. Die bemerkenswerte Reaktion der Bürger auf die Corona-Krise zeigt, dass sich die Zivilgesellschaft in Belarus erhebt, trotz ungünstiger Rahmenbedingungen. Der sogenannte “starke Staat” ist in Wirklichkeit nur ein Rüpel, der angesichts einer echten Gefahr verwirrt ist und feige. Engagierte und mutige Bürger, die sich und andere so schnell organisiert und mobilisiert haben, noch dazu in so großer Zahl, zeigen sich effektiver als die staatliche Stümperbürokratie. In Belarus ist die autoritäre Methode offenbar nicht die Lösung.

Leider sind arrogante Herrscher selten bereit, Fehler zuzugeben oder zurückzutreten. Im Gegenteil: Sie werden oft nur aggressiver. Statt mitfühlender oder dankbarer Worte hören die Belarussen von unserem Staatsoberhaupt wütende und bedrohliche Reden. Für die staatlichen Institutionen sind Transparenz und Verantwortlichkeit nach wie vor fremde Begriffe. Das Virus hat die Unfähigkeit der Behörden zu einem zielgenauen und verantwortlichen Handeln offengelegt. Und so hat das Vertrauen der Öffentlichkeit stark gelitten.

Mir scheint, als gäbe es jetzt mehr Widerspruch in der Gesellschaft, und er ist über mehr Bevölkerungsgruppen verteilt als je zuvor. Schon jetzt löste die für August anberaumte Präsidentenwahl Proteste aus. Diese werden von Bloggern angeführt, die versuchen, die Regierung zur Verantwortung zu ziehen und der Macht die Wahrheit zu sagen. Angehörige des medizinischen Personals, enttäuscht über die Unfähigkeit des Staates, sie zu schützen und unterstützen, haben sich an Demontrationen beteiligt und online erstmals offen ihre Meinung gesagt. Einige wurden verhaftet und haben ihre Jobs verloren.

Das haben wir alles schon zuvor erlebt. Die Polizei löst die Proteste auf und verfolgt Aktivisten, Journalisten und Blogger, sogar wenn diese sich mit dem Virus infiziert haben und schon im Krankenhaus liegen. Und unsere unterwürfigen Gerichte fahren fort, sie zu Gefängnisstrafen zu verurteilen. Aber irgendwie fühlt sich das jetzt anders an.

Momentan konzentrieren sich die Menschen in Belarus darauf, das Virus zu überstehen. Doch obwohl unklar ist, wie das Leben nach der Pandemie aussehen wird, fragen die Leute schon jetzt, ob sie die existierende Staatsordnung für ihre eigene Zukunft beibehalten wollen. Vor drei Jahrzehnten brauchte es die Tragödie von Tschernobyl, um die Menschen so aufzuschrecken, dass sie sich eine andere Zukunft vorstellten und jene Veränderungen einleiteten, die zu einem neuen und unabhängigen Belarus führten. Wie damals werden die Veränderungen auch diesmal nicht schnell und ohne Probleme eintreten. Aber in diesem seltsamen und schwierigen Moment bin ich sehr stolz auf meine Landsleute und voller Hoffnung für die Zukunft meines Landes.

Dieser Text ist dem Leben und Werk von Yuri Zisser gewidmet, einem Pionier der Internetmedien in Belarus, dem Begründer des landesweit größten unabhängigen Portals TUT.by, einem Philanthropen und Renaissancemenschen, der am 17. Mai 2020 gestorben ist.

Dieser Artikel ist Teil des Debates Digital-Projekts, einer Reihe digital veröffentlichter Inhalte, darunter Texte und Live-Diskussionen von einigen der herausragenden Schriftsteller, Wissenschaftler und öffentlichen Intellektuellen, die Teil des Debates on Europe-Netzwerks sind. Eine Online-Diskussion mit den Autoren findet am 9. Juni um 19.00 Uhr MESZ statt und wird auf YouTube gestreamt.

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