Als in Russland die ersten Covid-19-Erkrankungen bekannt wurden und sich das Virus ausbreitete, arbeitete ich gerade im Zentralarchiv des Inlandsgeheimdienstes der Russischen Föderation (FSB). Dort, wo Dokumente über Unterdrückte, Verhaftete, Hingerichtete der Stalinzeit lagern.
Jeden Morgen kam ich zu dem unauffälligen Gebäude unweit der Lubjanka auf der Straße Kusnezki Most und bekam zerfledderte Pappmappen ausgehändigt: Die Archiv- und Ermittlungsakten meiner Verwandten und von Freunden der Familie.
Es war, als existierte ich in zwei Epochen.
In einer, der Gegenwart, gab es Nachrichten aus aller Welt über Quarantänen, geschlossene Grenzen, über neue Verhaltensregeln: Versammlungsverbot, Masken, soziale Distanz; mit anderen Worten – das Unterbinden oder Minimieren von Kontakten.
In der anderen, der Vergangenheit, entdeckte ich beim Lesen der Akten etwas, das auf eine seltsame und unheimliche Weise ähnlich war.
Als ausgewiesener Volksfeind war man damals augenblicklich infektiös. Familie, Freunde und Kollegen gehörten sofort zur Risikogruppe. Anhand der Papiere über Verhöre und Haftbefehle konnte ich sehen, wie dieses Stigma, ein tödliches Stigma, übertragen wurde - vom Bruder auf den Bruder, vom Vater auf die Kinder, zwischen Mitgliedern eines Philatelistenkreises, zwischen Geistlichen einer Kleinstadt.
Das Leben nicht unantastbar ist
Das Virus, oder besser gesagt, der Stand der „Durchseuchung“, war zur eindeutigen physiologischen Metapher für politische Repressionen und ihre generationenübergreifenden Folgen geworden: der Aushöhlung und Verarmung des Lebens, der Zerstörung von Formen sozialer, menschlicher Solidarität, der sich einstellenden Gewohnheit, jeden neuen Kontakt mit Vorsicht zu betrachten und jeden Menschen als potenziell ansteckend.
Ich denke, dieses Phänomen hatte (und hat) in Russland eine paradoxe Ausformung: als unausgesprochener, fatalistischer Konsens darüber, dass das Leben nicht unantastbar ist, dass man sich vor der Geschichte und dem Staat nicht zurückziehen, nicht verstecken und ihnen keinen Widerstand leisten kann, dass man sie gezwungenermaßen als Naturkatastrophe betrachten muss, die zu einem alltäglichen Zustand geworden ist – genau so wie die Epidemie.
Mit einer solchen Anamnese traf die russische Gesellschaft auf das neue Coronavirus.
Das Vorgehen des Staats war und bleibt vorhersehbar.
Am zweiundzwanzigsten April war eine „Volksabstimmung“ über Verfassungsänderungen geplant , die Wladimir Putin ermöglichen sollte, noch zweimal den Posten des Präsidenten einzunehmen (nach der aktuellen Fassung ist die derzeitige Amtszeit Putins seine letzte). Darüber hinaus beinhalten die Änderungen einen weiteren autoritären und konservativen Schwenk in der russischen Politik: so soll gemäß eines Änderungsantrags die Familie ausschließlich als „Vereinigung von Mann und Frau“ definiert werden.
Zunächst wurde davon ausgegangen, die Volksabstimmung und die im Kalender folgende Siegesparade vom 9. Mai, das wichtigste Propagandaereignis des Jahres, könnten stattfinden. Die Behörden verbreiteten unablässig die Behauptung , Covid-19 werde Russland nicht erreichen, es sei nicht so gefährlich. Eine der kursierenden Versionen erklärte, dass diejenigen, die in der UdSSR geboren und in ihrer Kindheit obligatorisch gegen Tuberkulose geimpft worden waren, nicht an Covid-19 erkranken könnten, dass also die sowjetische Vergangenheit sie buchstäblich vor der russischen Gegenwart schütze.
Kaum hatten die Infektionszahlen jedoch alarmierende Werte erreicht (wobei in Russland medizinische Statistiken wie auch alle anderen manipuliert werden), wurde die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen: strengste Quarantäne, digitale Passierscheine, Apps für Smartphones, die die Bewegungen verfolgen. Diese Maßnahmen mögen vernünftig oder teilweise vernünftig sein, aber wenn sie von einem autoritären Staat durchgesetzt werden, für den die Bürger keine potenziell Erkrankten, sondern potenziell Verdächtige sind, wenn Disziplin und nicht die Gesundheit im Vordergrund steht, ergibt sich ein überwältigender Effekt.
Vermutlich hat sich das Virus in Moskau zu keinem Zeitpunkt rasanter ausgebreitet als an jenem Tag, als die ersten elektronischen Passierscheine eingeführt wurden und sich riesige Schlangen vor den Metro-Eingängen bildeten: Die Polizei war angewiesen worden, jeden von ihnen zu überprüfen.
Defizit der Anerkennung des anderen
Bemerkenswerterweise zeigte das Verhalten der Menschen in dieser Situation mehrere kritische Defizite, die komplex miteinander verbunden und stark widersprüchlich sind. Sie sind es eigentlich, die das Regime von Wladimir Putin ermöglichen.
Das erste ist ein Vertrauensdefizit; ja, auch gegenüber den Behörden, in erster Linie jedoch gegenüber den Mitbürgern: Hier rette sich, wer kann.
Gleichzeitig existiert ein Defizit der Anerkennung des anderen, der Anerkennung von Grenzen; ein Defizit an Respekt, der sich aus der Wertschätzung für das Leben des anderen ergibt: Es ist kein Zufall, dass die Quarantäne in Russland im Allgemeinen nicht als bereitwillige Aktion verantwortungsbewusster Bürger wahrgenommen wird, sondern als rein staatliche Maßnahme, die befolgt werden muss.
Am Kreuzungspunkt der beiden ersten Defizite ergibt sich ein drittes: das Defizit an bürgerlichem Verantwortungsbewusstsein.
Quarantäne und Social distance zeigen nur, dass wir tatsächlich schon lange in einem Zustand politischer Selbstisolation leben. Das ist unsere Realität, nur wurde sie jetzt metaphorisch wie auch physisch wahrnehmbar.
Leere Straßen und Politikverdrossenheit – so haben wir schon lange vor Covid-19 gelebt.
Viele in Russland sagen jetzt, die Covid-19-Epidemie werde Putins Ansehen und seinen Umfragewerten schaden. Doch dabei sollte bedacht werden, dass Putin weiß, wie er aus taktisch schrecklichen, hoffnungslosen Situationen strategische Vorteile ziehen kann. Die Geiselnahme in einer Schule in Beslan 2004, die zu einer Erstürmung des Gebäudes führte, bei der Hunderte von Kindern getötet wurden, hätte das Ende seiner Karriere bedeuten können. Stattdessen, unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus und der Stärkung staatlicher Macht, wurden die Gouverneurswahlen abgeschafft. Ich denke, wir werden noch erleben, wie die Epidemie und ihre verheerenden Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung und die Wirtschaft ausgenutzt werden, um eine weitere Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten zu rechtfertigen.
Dieser Artikel ist Teil des Debates Digital-Projekts, einer Reihe digital veröffentlichter Inhalte, darunter Texte und Live-Diskussionen von einigen der herausragenden Schriftsteller, Wissenschaftler und öffentlichen Intellektuellen, die Teil des Debates on Europe-Netzwerks sind. Eine Online-Diskussion mit den Autoren findet am 23. Juni um 19.00 Uhr MESZ statt und wird auf YouTube gestreamt.