Analyse Die europäer und die Covid-19 | Bulgarien

Bulgarien: „Den Tod kann man nicht so betrügen wie die europäischen Institutionen“

Nachdem sie der ersten Welle der Pandemie dank eines raschen, nahezu militärisch organisierten Lockdowns entkommen waren, sahen die Bulgaren der zweiten Welle viel entspannter entgegen. Zwischen Protesten gegen die Regierung und dem Misstrauen gegenüber Impfstoffen trifft sie die Pandemie nun aber mit voller Härte, berichtet Alexandre Lévy aus Sofia.

Veröffentlicht am 22 Dezember 2020 um 09:26

Noch vor wenigen Tagen konnten die Bulgaren mitten im Altweibersommer das „Leben davor“ geniessen. Bars und Restaurants waren geöffnet, auch Nachtclubs, ganz zu schweigen von Einkaufszentren; Schüler gingen zur Schule, Angestellte in ihre Büros. Man konnte durch das gesamte Land reisen, sogar fast überall hin, in der Europäischen Union, und Masken waren nur in geschlossenen Räumen vorgeschrieben. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, sah es so aus, als könnte man das Leben in diesem, „anderen“ Bulgarien fast schon geniessen. Man wolle die Menschen nicht „einsperren“, so der Ministerpräsident Boïko Borissov, die Wirtschaft sollte trotz der Pandemie am Laufen bleiben und die „geistige Gesundheit" der Bevölkerung galt als ebenso wichtig wie ihre körperliche Gesundheit. 

Dabei war die zweite Welle von Covid-19 längst im Anrollen, mit einer ständig steigenden Zahl von Infizierten, Krankenhausaufenthalten und Toten. Erst als überlastete Krankenhäuser Alarm schlugen, sahen sich die Behörden ab dem 27.

November zu strengeren Massnahmen genötigt: Schulen, Universitäten, Bars und Restaurants sowie grosse Einkaufszentren wurden nun geschlossen. Doch für viele war es bereits zu spät: In nur wenigen Monaten wurde Bulgarien, das zu einem Beispiel für gutes Management während der ersten Welle geworden war, zu einem der Länder, in denen pro Kopf die meisten Menschen an Covid-19 sterben.

„Man kann den Tod nicht betrügen wie die europäischen Institutionen“, schrieb der Schriftsteller Georgij Gospodinow (der Autor von „Physik der Schwermut“) am 1. Dezember in einer Medienaussendung, um die Untätigkeit der Behörden anzuprangern. „Man kann nicht überall vorne sein: bei Armut, Korruption, Luftverschmutzung, bei Todesfällen auf den Strassen oder Verschwörungstheorien, um dann zu glauben, dass dies gerade nicht für diese Pandemie gelten sollte“, fuhr er fort. 

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Anfang Dezember zählte Bulgarien 142.486 Fälle von Erkrankungen an Coronaviren, darunter 3.814 Todesfälle, mit durchschnittlich 4.000 Infektionen und 150 Todesfällen täglich. Gemessen an seinen 7 Millionen Einwohnern steht das Land damit an der Spitze der traurigen europäischen Liste der Todesfälle pro Einwohner. Mit der Einführung der jüngsten Massnahmen, die bis zum 21. Dezember andauern werden, hoffen die Behörden, den Bulgaren Festtage unter „guten Bedingungen“ zu ermöglichen.

Aber werden diese Massnahmen ausreichen? In den letzten Tagen berichteten die lokalen Medien über ergreifende Geschichten von alten Menschen, die zu Hause sterben, von Patienten, die auf der Suche nach Platz von Krankenhaus zu Krankenhaus geschickt werden (zwei von ihnen starben unter den Augen der Kameras auf der Treppe einer Poliklinik in Plovdiv) und von Hunderten oder sogar Tausenden von Angehörigen der Ärzteschaft, die selbst infiziert sind. 

Eingesetzt an vorderster Front wurde klar, wie erschöpft, ausgelaugt und unterausgerüstet sie angesichts dieser Geissel sind - ganz abgesehen von ihrer geringen Bezahlung. Die Behörden selbst gestehen ein, dass es in Bulgarien an medizinischem Personal mangelt, da viele Ärzte und Krankenschwestern in reichere EU-Länder emigriert sind. „Man wirft uns vor, seit der ersten Welle im vergangenen Frühjahr unvorbereitet gewesen zu sein. Aber wie können wir all diese fehlenden Ärzte und Krankenschwestern in ein paar Monaten vernünftig ersetzen?“, verteidigte sich Gesundheitsminister Kostadin Anguelov.

Während der ersten Covid-19 -Welle war Bulgarien in der Tat eines der am wenigsten von der Pandemie betroffenen Länder. Mitte Mai, als die meisten europäischen Länder angesichts einer nie dagewesenen Krise ihrer Gesundheitssysteme (Frankreich, z.B. zählte bis zu 600 Todesfälle pro Tag) nahezu überall Lockdown-Vorschriften erliessen, zählte man in Bulgarien gerade einmal 1500 Ansteckungen und etwa 60 Todesfälle, insgesamt. Wie ist es dem ärmsten Land der EU mit seinem notorisch schwachen Gesundheitssystem so gut ergangen?

Zusammenfassend kann man wohl sagen, dass es eine Mischung aus verschiedenen Faktoren war, die es Bulgarien erlaubte, die erste Welle ohne allzu grossen Schaden zu überstehen: Etwas Glück gehört ebenso dazu wie die sehr strengen und rechtzeitig ergriffenen Massnahmen der Regierung (zusammen mit drastischen Sanktionen für all diejenigen, die sich nicht daran hielten) und der, zumindest damals, vorbehaltslose Rückhalt  der Bevölkerung gegenüber den ergriffenen Massnahmen – einer Bevölkerung freilich, die damals grosse Angst vor dem Virus zu haben schien. Glück war, dass Bulgarien, wie Ventsislav Moutaftchiïski, der damalige Militärarzt an der Spitze des Krisenstabes erklärte, bereits vor dem Auftreten des neuen Virus eine Quarantäne verordnet hatte, da die Wintergrippe jedes Jahr verheerende Auswirkungen auf das Land hat. Verbunden waren damit auch die Schliessung von Schulen und besondere Schutzmassnahmen in Krankenhäusern.

Man kann nicht überall vorne sein: bei Armut, Korruption, Luftverschmutzung, bei Todesfällen auf den Strassen oder Verschwörungstheorien, um dann zu glauben, dass dies gerade nicht für diese Pandemie gelten sollte“.

Georgij Gospodinow

In der Folg war dieser Mann mit der Zwei-Sterne-Generaluniform und dem martialischem Tonfall zum Symbol des bulgarischen Kampfes gegen das neue Virus geworden – ein Kampf der so zur militärischen Schlacht stilisiert wurde. Er war es, der den Premierminister überzeugte, sich für eine Strategie der strengen Eindämmung zu entscheiden, einschliesslich abschreckender Massnahmen für Schummler und physischer, quasi schon polizeilicher Überwachung der ersten Ansteckungen. Erschrocken von dem, was sie auf den Bildschirmen aus Westeuropa sahen, spielten die Bulgaren dieses Spiel mit, im Bewusstsein welcher Gefahr dem kleinen Bulgarien drohen könnte, angesichts der Bilder die zeigten, wie so entwickelte Länder wie Italien, Spanien und Frankreich um die Kontrolle der Pandemie auf ihren Territorien kämpften.

Korruption und Interessenkonflikte

Und dann sind die Bulgaren auch noch aus dem Lockdown gegangen, ohne das Virus wirklich jemals gekannt zu haben. Der Sommer kam mit seinen grossen Ferien an den Stränden des Schwarzen Meeres und der Ägäis. Mangels einer Gesundheitskrise geriet Bulgarien dann aber in eine Zone starker politischer Turbulenzen mit Enthüllungen über Korruption und Interessenkonflikte im grossen Stil mit täglichen Demonstrationen, die zum Rücktritt der Regierung aufriefen. Relativ lange Zeit hat sich so niemand wirklich um das Virus gekümmert, das auch in vielen europäischen Ländern verschwunden zu sein schien. 

In der Zwischenzeit haben Verschwörungstheorien aller Art immer mehr Anhänger gefunden und Bulgarien zu einem der Länder der EU gemacht, das am stärksten von Fake News zu diesem Thema betroffen ist, so Dr. Mikhail Okoliïski, WHO-Vertreter in Sofia. So beabsichtige beispielsweise mehr als die Hälfte der Bulgaren, sich nicht gegen dieses Virus impfen zu lassen und geben als Gründe an „Angst, dass ihnen ein Chip implantiert werde“ oder dass ihr Gehirn „gehackt“ oder „genetisch verändert" werde.

Und so war sicherlich auch Rücksichtnahme auf diesen Teil der Bevölkerung ein Grund, warum die gegenwärtige Regierung bei dieser zweiten Welle so langsam gehandelt hat. Und im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sind die eingeführten Massnahmen noch relativ weich, ja sogar liberal, wie es auch der General Wentsislaw Mutationtschijewski, der, wenn auch diesmal in Strassenkleidung wieder seinen Dienst aufgenommen hat, betonte.  

In Zusammenarbeit mit der Heinrich Böll Stiftung – Paris


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