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Covid-19-Impfstoff-Verträge: Laut Experten sind der EU die Hände gebunden

Der Streit zwischen der EU und AstraZeneca über die verspätete Versorgung mit Impfstoffen hat eine ganze Reihe fragwürdiger Verträge mit der Big Pharma ans Licht gebracht. Zu den Problemen gehören die unklaren Liefertermine der Hersteller. Allerdings enthüllen die Anwälte, welche die Verträge untersuchen, dass die Unternehmen einen klaren Vorteil gegenüber der EU haben.

Veröffentlicht am 10 Februar 2021 um 09:53

Die Verzögerung bei der Verteilung des Oxford-Impfstoffs an die EU-Länder durch AstraZeneca (Inhaber einer exklusiven Produktionslizenz) könnte zu rechtlichen Kopfschmerzen führen. Das anglo-schwedische Unternehmen hat die von der Europäischen Kommission erhobenen Vorwürfe des Vertragsbruchs zurückgewiesen, nachdem diese mit rechtlichen Schritten gedroht hatte.

Abgesehen von der offensichtlichen Dringlichkeit, die europäische Bevölkerung zu impfen und die Krise hinter sich zu bringen, bleibt es schwierig zu bestimmen, wer Recht hat und wer nicht. Die Auseinandersetzung dreht sich um technische Unstimmigkeiten, die schwer zu interpretieren sind, zumal die am 29. Januar veröffentlichte Version des Vertrags stark modifiziert wurde. An diesem Tag wurde der Impfstoff von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) genehmigt und von der EU-Kommission zur Vermarktung zugelassen.

In den letzten Tagen wurde ein teilweiser Waffenstillstand erreicht: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen konnte nichts anderes tun, als auf die von AstraZeneca und Pfizer angekündigte Bereitschaft zu setzen, den Rückstand aufzuholen. In der Tat gibt es nur eine Gewissheit in diesem Chaos: Die schwache Position, in die sich die EU und die Mitgliedstaaten mit dem Eingehen hoher finanzieller Risiken und einer weniger anspruchsvollen Haltung gegenüber den Lieferanten gebracht haben.

Die Verträge aus der Sicht der Anwälte

Dieses Bild ergibt sich aus der Analyse von Anwälten, die auf den Pharmasektor spezialisiert sind. Wir haben sie um eine Stellungnahme zu den bisher deklassierten Verträgen gebeten: Jene, die im August und November 2020 mit AstraZeneca bzw. der deutschen Firma Curevac unterzeichnet wurden. Generell gelten diese Einschätzungen auch für die heimlich abgeschlossenen Verhandlungen mit anderen Unternehmen (Johnson & Johnson, Sanofi-GSK, Pfizer-Biontech, Moderna). Nur verspätete Zahlungen der Kommission und der Mitgliedstaaten sind im Gegensatz zu verspäteten Lieferungen sofort strafbar.

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„Die den Unternehmen in den Verträgen eingeräumten Flexibilitäten zielen darauf ab, die Unsicherheiten zu minimieren, die mit dem enormen Produktionsaufwand verbunden sind, den die außergewöhnlichen Umstände der Pandemie erfordern“, kommentiert Colin McCall, Partner der internationalen Anwaltskanzlei Taylor Wessing mit Sitz in London. Clive Douglas, Anwalt und Wirtschaftsmediator bei Nexa Law (eine weitere britische Anwaltskanzlei), zeigt sich kritischer: „Im Gegenzug für die Beteiligung an den Kosten für die Entwicklung von Impfstoffen und die günstigen Konditionen für die Unternehmen hätte sich die EU das Recht vorbehalten sollen, während der gesamten Laufzeit der Verträge, insbesondere in der Phase nach der Zulassung, über genaue Mengen und Liefertermine zu verhandeln, und zwar mit entsprechenden Strafen und Preisnachlässen bei Nichteinhaltung.“

„Gemäß der Vereinbarung mit AstraZeneca (dasselbe gilt für Pfizer) hatten die Regierungen fünf Tage Zeit, nachdem man ihnen die Beteiligung angeboten hatte“, erklärt eine anonyme Quelle aus der Kommission. „Jeder hat dafür gestimmt, um den Zugang zum Impfstoff - sobald dieser von der Europäischen Arzneimittel-Agentur zugelassen wird - nicht zu verlieren. Kurz gesagt: Alles oder nichts.“

Ein weiterer strategischer Fehler des Verhandlungsteams (unter der Leitung von Sandra Gallina, Generaldirektorin der Gesundheitsabteilung der Kommission, und bestehend aus den Delegierten aus Italien, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Spanien, Schweden und Polen) besteht darin, einen nach Monaten oder Quartalen unterteilten Lieferkalender akzeptiert zu haben. „Angesichts der Dringlichkeit, so schnell wie möglich über die Impfstoffe zu verfügen, wäre ein kontinuierlicher Verteilungsplan mit kürzeren Intervallen besser gewesen“, meint Douglas.

„Gewiss erleichtern die vierteljährlichen Lieferungen die Impfkampagne nicht“, bestätigt Guido Rasi, ehemaliger Direktor der EMA. Massimo Florio, Professor für Finanzwissenschaften an der Universität Mailand, stimmt dem zu: „Pharmakonzerne können die Lieferungen in großen Blöcken konzentrieren, was für die Gesundheitsbehörden schwer zu handhaben ist, insbesondere wenn die Lagerkapazitäten überstiegen und die ordnungsgemäßen Verabreichungen beeinträchtigt werden.“

Die Zahlung muss im Voraus erfolgen, die Lieferung kann sich allerdings verzögern

Die mit AstraZeneca und Curevac unterzeichneten Verträge sehen eine genaue Zahlung in Raten vor: Ein erster Vorschuss zu Lasten des EU-Haushalts, eine zweite Anzahlung, die von den Mitgliedstaaten gezahlt wird, und ein abschließender Restbetrag, der sich nach den Dosen richtet, die den einzelnen Ländern zugewiesen wurden (proportional zur Bevölkerungsgröße). Im Fall von Curevac ist die zweite Teilzahlung, die von den nationalen Haushalten gezahlt wird, zu dem Zeitpunkt fällig, an dem der Antrag auf Zulassung bei der EMA eingereicht wird, also bevor sichergestellt ist, dass der Verkauf des Impfstoffs genehmigt wird.

Aus den geschwärzten Sätzen der Vereinbarung mit AstraZeneca, die mit dem Adobe Reader unzensiert werden können, geht hervor, dass die 870 Millionen Euro für die vereinbarten 300 Millionen Dosen wie folgt aufgeteilt werden: Fünf Tage nach der Unterzeichnung zahlt die Kommission zwei Drittel der Anfangsinvestition von 336 Millionen Euro, um die Produktion zu beschleunigen. (Die Zahlung des restlichen Anteils hängt von der Abgabe einer Erklärung des Unternehmens ab.) Danach tragen die nationalen Regierungen die Kosten für das Abfüllen, Verpacken und Verteilen (Beträge und Fristen sind geschwärzt) und zahlen schließlich für ihre Einzeldosen.

Wenn die Kommission und die Mitgliedstaaten mit der Zahlung im Verzug sind, werden nach dem Ermessen des Unternehmens Verzugszinsen und eine Unterbrechung der Lieferungen ausgelöst. Eine weitere geschwärzte Klausel erlaubt es AstraZeneca, den Preis für die 100 Millionen zusätzlichen Dosen, welche die Mitgliedsstaaten kaufen müssen, zu erhöhen (oder einfach die Lieferung zu unterbrechen, falls die Regierungen die Preiserhöhung nicht akzeptieren), falls die Pandemie am 1. Juli 2021 vorbei sein sollte.

„Unter normalen Umständen - also nicht in der aktuellen Situation, in der die Produktionsinfrastruktur schnell von Grund auf neu geschaffen werden muss und auf mögliche Probleme treffen kann - würde ein pharmazeutischer Liefervertrag Vertragsstrafen für die Nichtlieferung oder verspätete Lieferungen innerhalb der vereinbarten Fristen enthalten“, erklärt McCall. Diese Klauseln fehlen im Vertrag mit Curevac, der die Verteilung nach Quartalen staffelt, voll und ganz. Einem Bericht der italienischen Zeitung Corriere della Sera zufolge sieht der Vertrag mit Pfizer einige Formen der Entschädigung (Strafen oder Rückerstattung) vor, aber nur für die verspätete Lieferung der für ein bestimmtes Quartal vorgesehenen Dosen. Pfizer kann die Strafen auch durch alternative Lösungen vermeiden. Somit stellen die Lieferunterbrechungen in den EU-Ländern in den letzten Wochen nicht unbedingt einen Verstoß des US-Unternehmens dar.

Der „Softball-Ansatz“ ist auch im Vertrag mit AstraZeneca zu sehen: Während das Unternehmen mit Zahlungsunterbrechungen rechnen muss, wenn es nicht zu den vereinbarten Terminen liefert, hat es auch die Macht, diese Termine während der Vertragsausführung einseitig zu ändern. „Die Regierungen haben das Recht, die Zahlungen nur für die verspätete Lieferung der vom Unternehmen mitgeteilten Mengen einzustellen, nicht aber für das Versäumnis, alle vertraglich vereinbarten Dosen für einen bestimmten Monat zu liefern“, erläutert Douglas.

„Nach bestem Wissen und Gewissen“

Als AstraZeneca also ankündigte, die der EU ursprünglich zugesicherten acht Millionen Dosen für das erste Quartal 2021 auf 3,4 Millionen zu reduzieren, stellte dies möglicherweise keinen direkten Verstoß dar. Um anders zu entscheiden, müsste ein Richter feststellen, ob das Unternehmen seine Zusage eingehalten hat, sich „nach bestem Wissen und Gewissen" um die Bereitstellung der versprochenen Dosen zu bemühen oder nicht. „Nach bestem Wissen und Gewissen“ ist ein vager Grundsatz, der in der Prämisse des Vertrages erwähnt ist, beschrieben als „Aktivitäten, die ein Unternehmen ähnlicher Größe für die Entwicklung, Produktion und das Marketing unternehmen würde, in Anbetracht der Dringlichkeit eines Impfstoffs, um einer Pandemie ein Ende zu setzen“. Paradoxerweise ist es genau dieser Punkt, an den sich sowohl die Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, als auch der Geschäftsführer von AstraZeneca, Pascal Soriot, zur Verteidigung ihrer gegensätzlichen Thesen klammern.

Die Interpretation von McCall scheint AstraZeneca zu begünstigen: „Gemäß Klausel 5.1 bezieht sich der maximale angemessene Aufwand zur Herstellung von Dosen für die EU auf den Zeitraum nach der Marktzulassung“. In einem solchen Szenario könnte das Unternehmen behaupten, dass es nicht verpflichtet war, eine ausreichende Produktion sicherzustellen, bevor es grünes Licht von der EMA und der Kommission erhielt, die beide erst vor wenigen Tagen ihre positive Entscheidung bekannt gaben.

Laut Douglas ist die Situation in Wirklichkeit viel komplexer. Man muss sich nur eine Reihe der spezifischen Bestimmungen im Vertrag ansehen, um zu entscheiden, ob AstraZeneca die angemessenen Anstrengungen unternommen hat. Zunächst einmal erklärte das Unternehmen, dass keine mit Dritten (einschließlich des Vereinigten Königreichs, dem es den Vorrang eingeräumt hat) unterzeichnete Vereinbarung es daran gehindert hätte, die vereinbarten Dosen innerhalb des geschätzten Zeitrahmens an die EU zu liefern. Darüber hinaus ist das Unternehmen verpflichtet, regelmäßig Kontakt mit seinen Vertragspartnern zu halten, um eventuell auftretende Lieferprobleme zu lösen. Schließlich soll das Unternehmen, wenn es nicht mehr in der Lage ist, in seinen eigenen Fabriken (einschließlich derjenigen im britischen Hoheitsgebiet) in ausreichendem Maße zu produzieren, alles tun, um einen Teil der Produktion an Fabriken zu vergeben, die möglicherweise von der Kommission und den Mitgliedstaaten vorgeschlagen werden.

„Um die Unstimmigkeiten zwischen den beiden Parteien in die eine oder andere Richtung auszuräumen, wäre es entscheidend zu wissen, wann AstraZeneca zum ersten Mal auf das Problem an einem seiner Produktionsstandorte gestoßen ist, und ob es die EU zu spät informiert hat“, betont Douglas. Solche Beweise auszugraben, würde Zeit erfordern, welche die EU nicht hat, zumal sie rund um die Uhr gegen die verheerenden Auswirkungen des Coronavirus ankämpft.

In ihren offiziellen Erklärungen sagte die Kommission, dass der Lenkungsausschuss für die Impfstoff-Strategie (einschließlich aller Vertreter der Mitgliedstaaten) nicht vor der Sitzung am 22. Januar von AstraZeneca über die Verzögerungen informiert wurde. Wir haben das Unternehmen gefragt, wann es von den Schwierigkeiten erfahren hat, haben jedoch keine Antwort erhalten.

„Bei der Aushandlung der Verträge hätten die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten viel mehr Sorgfalt darauf verwenden sollen, die öffentlichen Interessen zu schützen, indem sie die Unternehmen im Falle der Nichteinhaltung mit spezifischen Klauseln zur Verantwortung hätten ziehen können“, argumentiert Viviana Galli, Koordinatorin der Europäischen Allianz für verantwortungsvolle Forschung und Entwicklung und erschwingliche Medikamente. „Offensichtlich wurden sie von den Unternehmen ausgetrickst, die es gewohnt sind, zu verhandeln, und die es geschafft haben, die - für sie selbst - besten Verträge auszuhandeln.“

Dieser Artikel ist Teil des Projekts „Wer profitiert von der Covid-19-Pandemie?“, das von Investigative Journalism for EU unterstützt wird.


In Partnerschaft mit der European Data Journalism Network

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