Junge Europäer stellen sich der Pandemie | Frankreich

Studenten in der Covid-Krise – eine verlorene Generation?

Zukunftsangst, Existenznöte, Schuldgefühle - die Corona Krise trifft viele Studenten besonders hart. Während in Frankreich nach dem ersten Lockdown Kinder wieder zur Schule und viele Erwachsene weiter zu Arbeit gehen durften, blieben die Universitäten geschlossen. Das hat materielle und psychische Spuren hinterlassen. Der Weg zurück zur Normalität wird für diese Generation nicht einfach.

Veröffentlicht am 25 März 2021 um 16:43

Wie hart das Leben für Studenten in Frankreich ist, das hat die Ende 20-Jährige Autorin Marion Messina bereits 2017 in ihrem wütenden Erstlingsroman Fehlstart beschrieben, der in ihrer Heimat eingeschlagen ist wie eine Bombe. Prekäre Jobs, horrende Mieten, kaputt gesparte Unis, miese Ausbildung, das alles führt, von der Pariser Elite einmal abgesehen, diese “verlorene Generation” unausweichlich in die Sackgasse. ”Für die übergroβe Mehrheit der Franzosen war die Universität eine Wahl mangels Alternativen, ein Universum, in dem sie geparkt wurden, um die Arbeitslosenzahlen nicht explodieren zu lassen”, so ihre traurige Bilanz.

Hochverschuldet ins Berufsleben

Das alles ist natürlich nicht neu, nur haben sich die Probleme durch Corona zugespitzt. Die soziale Kluft ist noch größer geworden. Je prekärer die Lage vor der Pandemie, desto schlimmer geraten Studenten jetzt in Not. So wie Chaïma Lassoued, 24 Jahre, aufgewachsen mit ihren Geschwistern im Pariser Vorort Nanterre. Sie studiert internationale Beziehungen und wohnt seit März auf dem Campus der Université Nanterre, dort wo die 68-Bewegung ihren Anfang nahm. Grund zum Aufstand gäbe es hier jetzt wieder, und tatsächlich brennen nachts auf dem Campusparkplatz regelmäßig Autos, Polizisten rücken an und kontrollieren bei der Gelegenheit auch, ob im Studentenheim illegale Partys gefeiert werden. Tagsüber aber wird hier still gelitten. Viele der rund 1400 Studenten sind ausgezogen, andere sind zurück zu ihren Eltern. Rund 500 sind geblieben, zusammen wohnen jedoch tun sie nicht.

Nanterre, Frankreich. Chaïma und andere Bewohner haben den Verein ATR92 (für Aide Ton Resident) gegründet. Mehrmals in der Woche organisieren sie Lebensmittelausgaben für Studenten, die im CROUS von Nanterre leben. Constance Decorde | Hans Lucas

Kantinen, Lernräume, Gemeinschaftsküchen sind gesperrt, die meiste Zeit verbringt Chaïma allein in ihrer Einzimmerwohnung. 15m2 für 160 Euro im Monat, dazu 65 Euro für Monatskarte und Handy, außerdem ein Kredit von 1000 Euro, schon vor der Krise aufgenommen, den sie jetzt abzahlen muss. “Viele sind noch viel höher verschuldet, bevor sie überhaupt ins Berufsleben einsteigen”. Die zinslosen Kredite für Studenten sind nach Chaïmas Ansicht keine echte Hilfe, sondern verlagern das Problem bloß. Aktuell bekommt sie vom Staat 170 Euro im Monat, ohne Nebenjob geht es also nicht. Seit März sucht sie, doch gefunden hat sie bisher nur eine Tätigkeit bei ATR 92 (“Aide Ton Résident” - Hilf deinem Residenten) ein Verein für besonders hilfsbedürftige Studenten in dem Wohnheim.

Zwei Stunden am Tag organisiert Chaïma gemeinsam mit Tafeln wie dem Secours Populaire eine Essensausgabe. Knapp 200 Euro bringt ihr das im Monat. Immerhin und sinnvoller als für Uber Essen ausfahren ist es auch. Fast die Hälfte der Bewohner nimmt das Angebot an. Chaïma selbst auch, wenn sie keine Lust hat auf die Kantine, wo seit dem 25. Januar, wie überall in Frankreich, zwei Mal täglich Essen für einen Euro angeboten wird. “Bei uns gibt es vor allem Nudeln und Pommes, das stopft”, sagt Chaïma und lacht, denn beklagen will sie sich nicht. “Andere hier haben es noch schwerer, ein Dutzend Studenten isst nicht jeden Tag etwas, und in vielen Zimmern gibt es Ratten und Wanzen, das hat mit Würde nichts mehr zu tun.” 

Depressionen, Schuldgefühle, Suizidgedanken

Die Konsequenzen, sie liegen auf der Hand. “Je isolierter die Studenten sind, je weniger sie essen und je prekärer ihre Wohnverhältnisse sind, desto häufiger haben sie Suizidgedanken, da besteht ein klarer Zusammenhang”, sagt Aziz Essadek. Der Psychologe und Wissenschaftler setzt sich mit der psychischen Verfassung von Studenten seit Beginn der Krise in Frankreich auseinandersetzt.

Er ist Dozent an der Uni in Lothringen und hat seit dem ersten Lockdown im März eine Studie mit 8000 Studenten in der Region durchgeführt. 40 % von ihnen leiden an Depressionen, weitere 39 % haben Angststörungen. Meistens junge Frauen in prekären Verhältnissen, die selbst an Covid erkrankt sind. Während des zweiten Lockdowns im Oktober/November waren es noch viel mehr. “Niemand in Frankreich war über einen weiten Zeitraum so isoliert wie die Studenten. Dadurch wissen junge Leute heute oft gar nicht mehr, welche Bedürfnisse sie haben”, beklagt Essadek, selbst erst Anfang dreißig. 

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Seit Anfang Februar können in Frankreich Studenten gratis zum Psychologen oder Psychiater gehen. Die sogenannten “Chèques Psy” bekommen sie vom Hausarzt. “Ein Anfang”, sagt Essadek, doch bräuchten die meisten Studenten keinen Psychologen, sondern einfach wieder mehr Freiheit. “Junge Leute zwischen 18 und 25 müssen leben”. Anfang September, als die Unis kurz wieder öffneten, taten das einige Wenige zugegeben exzessiv, abgestraft jedoch wurden sie dafür alle. “Keine Disziplin, unverantwortlich, egoistisch”, die Schelte kam von allen Seiten, auch aus der Politik.

“Andere hier haben es noch schwerer, ein Dutzend Studenten isst nicht jeden Tag etwas, und in vielen Zimmern gibt es Ratten und Wanzen, das hat mit Würde nichts mehr zu tun.” 

Chaïma Lassoued

Eine Verallgemeinerung, die den Psychologen ärgert, denn die überwiegende Zahl der Studenten handele alles andere als unverantwortlich, sie leide vielmehr an Schuldkomplexen und der Angst, das Virus weiterzugeben. “Viele Studenten weigern sich, raus zu gehen, und die Rückkehr zu einem halbwegs normalen Leben fällt ihnen schwer. Ein Praktikum finden, wieder aktiv werden, Pläne schmieden, dafür fehlt ihnen oft die Motivation.” Das wiederum führt zu Selbstzweifeln und Selbstentwertung - ein Teufelskreis. 

“Eine illegitime Generation”

“Ich kriege viel weniger auf die Reihe als sonst”, sagt Louis Theobald, 18 Jahre, der im ersten Jahr Kommunikationswissenschaften an der polytechnischen Universität im nordfranzösischen Valenciennes studiert und wie viele Studenten Angst hat, seine “Corona-Diplome” könnten weniger wert sein. Angefangen bei seinem Abitur, das er ohne Abiprüfung bekommen hat. Die Noten wurden für seinen Jahrgang errechnet aus dem Durchschnitt der normalen Klausuren im letzten Schuljahr. “Abitur, das war einmal eine wichtige Prüfung”, sagt Louis, der auch jetzt als Neuling an der Uni das Gefühl hat, etwas ganz Wesentliches zu verpassen: “Studium, Studentenleben, das sind die wichtigsten Jahre im Leben, höre ich oft, aber wir haben nichts davon”, sagt er sichtlich niedergeschlagen. 

Ein Gefühl, das Lison Burlat teilt. Die 22-Jährige studiert Genderstudies an der prestigeträchtigen grande école EHESS und beendet dieses Jahr außerdem ihr Studium an der CELSA, eine Elite-Uni für Kommunikationswissenschaften in Paris. Ihre Kommilitonen vom letzten Jahr haben ihr Diplom nicht ausgehändigt bekommen, eine kleine Zoom-Veranstaltung gab es, vielleicht gehen sie alle zusammen mit den Professoren einen Trinken, wenn die Krise vorbei ist.

Nanterre, Frankreich. Constance Decorde | Hans Lucas

“Es gibt keinen Übergang mehr vom Studenten ins Erwachsenen- und Berufsleben, das ist brutal”, findet Lison, die damit indirekt auf die anthropologische Dimension der Krise hinweist: Das Fehlen grundlegender Rituale wie Beerdigungen, Hochzeiten und eben auch die Anerkennung von Leistung durch Diplome, welche die Legitimationsgrundlage bilden für das kommende Leben. Doch klagen, das will auch Lison nicht, sie als “ Privilegierte” schon gar nicht. Wütend ist sie trotzdem, wenn ihr vorgehalten wird, dass der Krieg viel schlimmer gewesen sei und diese Krise doch nun erst seit einem Jahr dauere.

Bestenfalls ein Jahr, und bereits eins von vier oder fünf Studienjahren ist eben doch eine Menge Zeit. Vor allem, wenn man sie nicht optimal nutzen kann. Auch wenn der Fernunterricht an ihrer Uni interessant und lehrreich war und alle Studenten durch das Netzwerk der Schule Praktika gefunden haben, hat Lison das Gefühl, weniger gut für die Zukunft gerüstet zu sein. “Bei einem Zoom-Praktikum fehlen einem echte Einblicke in den Berufsalltag und Kontakte knüpfen kann man auch nicht. Viele haben aus Angst das erstbeste Praktikum angenommen, obwohl sie in dem Bereich später gar nicht arbeiten wollen. Wenn ich an meine Zukunft denke, bekomme ich oft Panik.” 

Verächtlicher Umgang mit Studenten 

“Meine wichtigste Aufgabe besteht jetzt darin, den Studenten wieder Selbstvertrauen zu geben, ihnen klarzumachen, dass sie in dieser Ausnahmesituation andere Kompetenzen entwickelt haben. Ich glaube nicht, dass es sich um eine verlorene Generation handelt”, erklärt Olivier Ertzscheid, Professor am technischen Institut in La Roche-sur-Yon, das zur Universität in Nantes gehört. Solidarität zum Beispiel ist so eine Kompetenz. Zusammen mit seinen Studenten wird Ertzscheid im Frühling einen “solidarischen Lebensmittelladen” auf dem Campus eröffnen, wo sie bis zu 30 % billiger einkaufen können.

Generell greifen sich Studenten jetzt mehr unter die Arme, holen gemeinsam Unterrichtsstoff nach, teilen ihr Leid auf YouTube, organisieren Online-Debatten zu Umwelt- und Kulturthemen. Viele von ihnen sorgen sich über ihre persönliche Lage hinaus um die Zukunft. Politisches Engagement jedoch fällt schwer in Corona-Zeiten. Weil politische Themen dem logistischen Krisenmanagement gewichen sind, man sich nicht treffen und direkt austauschen kann und der Alltag schon schwer genug zu bewältigen ist.   

“Studium, Studentenleben, das sind die wichtigsten Jahre im Leben, höre ich oft, aber wir haben nichts davon”

Louis Théobald

Auch unter Professoren regt sich kaum Protest. Olivier Ertzscheid war einer der Ersten und Wenigen, der sich öffentlich den Corona-Regeln für Studenten widersetzte, weil er sie “unlogisch”und ”verächtlich jungen Menschen gegenüber” fand. Im Dezember gab er seinen Unterricht vor der Kirche im Zentrum von La Roche-sur-Yon, um auf das Leid der Studenten und die Widersprüche im Krisenmanagement aufmerksam zu machen. Warum sind Unis geschlossen, aber Kirchen offen, und warum gibt es vor dem großen Leclerc-Supermarkt ein Corona-Testzelt und vor den Unis nicht?, fragt er auch im Namen seiner Studenten, die im politischen und öffentlichen Diskurs lange nicht vorkamen.

Der Pädagoge ist überzeugt davon, dass Hygieneregeln durch Tests und Wechselunterricht in kleinen Gruppen hätten eingehalten werden können und fordert die schnellstmögliche Wiedereröffnung der Fakultäten. Seit Mitte Januar dürfen Studenten im Erstsemester wieder einen Tag pro Woche für praktische Kurse an die Universität kommen bei 20-prozentiger Auslastung der Hörsäle. Für alle anderen Studenten gilt diese Regel seit dem 8. Februar. Doch geht das nicht von heute auf morgen, weil viele ihre Wohnungen aufgegeben haben und es sich nicht leisten können, nur für ein paar Stunden wieder in die Uni zu kommen. Viele Hilfsmaßnahmen für Studenten sind unausgereift und bis sie im trägen Unibetrieb umgesetzt werden, sind sie oft schon wieder überholt. 

“Furchtbar einsam” - Erasmus in Zeiten der Pandemie

Aber immerhin ein Bewusstsein für die Situation der Studenten ist nun endlich entstanden. Nicht nur in Frankreich. In Wien etwa haben Anfang Februar Traditionscafés ihre Türen für Studenten trotz des Lockdowns wieder geöffnet, damit sie dort in Ruhe arbeiten und sich austauschen können. Wien ist die Heimatstadt von Hannah Kogler, die im August für ein Auslandssemester nach Valenciennes gekommen ist. Die Uni war damals kurz offen, die Kennenlerntage sind trotzdem weggefallen, also ging es direkt los mit dem Studium. Immerhin einmal hat sie es geschafft, mit zwei Erasmus-Freundinnen nach Paris zu fahren. Dann kam der zweite Lockdown.

“Ich habe mich furchtbar einsam gefühlt und bin im Unterricht überhaupt nicht mitgekommen, weil Französisch nur meine dritte Fremdsprache ist. Ich wollte nur noch nach Hause”. Unterstützung bekam sie von ihren Kommilitonen und von ihrem Freund, einem Franzosen, den sie an der Uni kennengelernt hat. “Ohne ihn hätte ich das alles nicht gepackt.” Immerhin etwas Positives in diesem Corona-Jahr, doch auch Liebe ist während der Pandemie noch komplizierter geworden. Nächstes Semester geht es für Hanna zurück nach Wien. Ob ihr Freund sie dann besuchen kann, steht in den Sternen. “Es ist ein komisches Gefühl, wenn andere über dein Leben entscheiden”, sagt Hannah. Planen kann derzeit niemand, wenn es jedoch darum geht, die Weichen für die Zukunft zu stellen, ist das besonders fatal.

In Zusammenarbeit mit der Heinrich Böll Stiftung – Paris


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