Data COVID-19 und die europäische Kulturindustrie | 1

Eine kulturelle Pandemie: Wie Corona den europäischen Kreativsektor gefährdet

Durch die Pandemie hat die europäische Kultur- und Kreativindustrie im letzten Jahr mehr als 30 % ihrer Einnahmen verloren, wodurch Tausende von Künstlern fast ohne Mittel dastehen. In vielen EU-Ländern hat die Krise gravierende Ungerechtigkeiten innerhalb des Sektors offenbart.

Veröffentlicht am 21 April 2021 um 17:15

COVID19 wird die europäische Kultur- und Kreativindustrie (KKI) für immer verändern. So könnte man einen 27 Seiten langen Bericht zusammenfassen, der im Januar 2021 von Ernst & Young (EY) veröffentlicht und von der European Grouping of Societies of Authors and Composers (GESAC) in Auftrag gegeben wurde. Der Bericht stellt sowohl die Eigenheiten der KKI als auch die allgemeinen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den europäischen Kultur- und Kreativsektor dar. Aber, was ist die KKI genau?

Es handelt sich um einen wichtigen Wirtschaftssektor der folgende Branchen umfasst: Bildende Kunst, Musik, audiovisuelle Medien, darstellende Kunst, Werbung, Architektur, Buch-, Zeitungs- und Zeitschriftenverlage, Radio und die Videospielindustrie. Die KKI macht einen erstaunlichen Anteil von 4,4 Prozent der europäischen Wirtschaft aus, wenn man die Wertschöpfung der Kultur als Anteil am gesamten BIP misst. Das scheint in den vergangenen Jahren untergegangen zu sein. Abbildung 1 zeigt die absoluten Werte in Milliarden Euro für die verschiedenen Sektoren der europäischen Wirtschaft. 


Es mag erstaunlich klingen, dass die KKI einen größeren Einfluss auf unsere Wirtschaft hat, als Sektoren wie Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, Textilien, Leder und Bekleidung, Telekommunikation, Luft- und Raumfahrt, Chemie, Öl- und Gasförderung, High-Tech-Güter oder die Pharmaindustrie. Laut EY waren 2019 in den Kernaktivitäten der Kultur- und Kreativbranche 7,6 Millionen Menschen in der EU beschäftigt. Zwischen 2013 und 2019 wuchs die Zahl der Beschäftigten mit einer Wachstumsrate von 1,9 Prozent stärker als in der Gesamtwirtschaft (+ 1,3%). Wie Abbildung 2 zeigt, waren Ende 2019 in der KKI mehr Menschen beschäftigt als in der Automobil – oder Chemieindustrie. 

Innerhalb der KKI beschäftigen die vier Branchen bildende Kunst, Musik, audiovisuelle Medien und darstellende Kunst mehr als eine Million Menschen. Fast 70 Prozent der oben erwähnten 7,6 Millionen Beschäftigten arbeiten im Bereich der darstellenden Kunst (siehe Abbildung 2). Zusätzlich zu dem Wert, den die Kultur- und Kreativwirtschaft intern für die europäische Wirtschaft in Bezug auf Wertschöpfung und Beschäftigungspotenzial darstellt, muss man ihren Beitrag zur Soft Power Europas in der Welt hinzufügen. 

Die Corona-Pandemie ist jedoch ein echtes Desaster für die KKI. Der Studie von EY zufolge wird der Gesamtumsatz der Branche bis 2020 von 643 auf 444 Milliarden Euro sinken, also um mehr als 30 Prozent. Abbildung 3 zeigt - basierend auf den Schätzungen von EY - den Rückgang der KKI im Vergleich zu anderen Bereichen der europäischen Wirtschaft. Mit einem voraussichtlichen Umsatzverlust von 31 Prozent im Jahr 2019 ist der KKI-Sektor einer der am stärksten von der Pandemie betroffenen Branchen in Europa. Nur der Luftverkehr liegt in diesem düsteren Ranking vor der KKI (- 31 Prozent). Dennoch könnte die KKI mehr unter der Krise leiden als der Tourismus (- 27 Prozent) und die Automobilindustrie (- 25 Prozent), denn nach Angaben der Europäischen Kommission macht der Kulturtourismus 40 Prozent des Tourismus in der EU aus. 

Die Schätzungen von EY zeigen, dass die Musikindustrie und die darstellenden Künste die beiden Bereiche innerhalb der KKI sind, die am stärksten eingebrochen sind. Abbildung 4 schlüsselt den geschätzten Umsatzverlust des gesamten KKI-Sektors nach den verschiedenen Sektoren auf. Inmitten des allgemeinen Rückgangs scheint die Videospielindustrie weiter zu wachsen, was damit zusammenhängen dürfte, dass Videospiele auch im Lockdown von zu Hause aus konsumiert werden können. 

"Für die Theater und die darstellenden Künste dagegen ist die Lage katastrophal", sagt Heidi Wiley, Vorsitzende der European Theatre Convention (ETC), einem Netzwerk staatlicher europäischer Theater, das 1988 gegründet wurde, um zeitgenössisches Theater zu fördern, die Mobilität von Künstlern zu unterstützen und den künstlerischen Austausch in Europa und der Welt zu entwickeln. Die ETC ist das größte Netzwerk von öffentlichen Theatern in Europa mit 44 Mitgliedern aus über 25 Ländern. "Innerhalb der Kulturlandschaft haben die darstellenden Künste den größten Umsatzrückgang erlitten, und das hat schwerwiegende Konsequenzen für Menschen, die im Theaterbereich arbeiten. In vielen Ländern sind die Häuser geschlossen und die Mitarbeiter beurlaubt", erklärt Wiley.

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Wileys Worte sprechen unzähligen Theaterschaffenden in Europa aus der Seele. In den vergangenen Monaten wurde die europäische Presse mit Beiträgen von Mitarbeitern der Branche überschwemmt. In Zypern veröffentlichte Vasos Argyridis, Direktor des Pattihio-Theaters in Limassol, einen offenen Brief, in dem er darlegte, wie die Bedeutung von Kultur und künstlerische Arbeit überall in Europa als Folge von COVID19 herabgestuft wurde.

Doch die Auswirkungen auf den Sektor gehen über die Schließung der Spielstätten hinaus. Auch im Fall einer schnellen Wiedereröffnung gibt es große Herausforderungen. "Weil so viele Theater geschlossen sind, gibt es einen 'Produktionsstau”. Die für das Frühjahr 2020 und die Wintersaison 2020/21 geplanten Aufführungen wurden verschoben. Wenn die Theater wieder geöffnet werden, wird es daher weniger Zuschauerkapazitäten und weniger Platz für alles 'Neue' oder 'Unerprobte' in den Programmen geben. Das bedeutet, dass es weniger Entwicklungsmöglichkeiten für die kommende Künstlergeneration geben wird. Der Stillstand des Theaterbetriebs bedeutet also nicht nur finanzielle Not, sondern bedroht auch die Voraussetzungen einer gesunden Theaterszene - mit einer neuen Generation von Künstlern und einem vielfältigen Angebot von Vorstellungen und Schauspielern".

Der bereits erwähnte EY-Bericht weist darauf hin, dass kreative Berufe tendenziell von jüngeren und höher gebildeten Menschen ausgeübt werden. Konkret heißt es in dem Bericht: "Im Jahr 2019 wurden 43 % der Arbeitsplätze in den KKI von Personen unter 39 Jahren besetzt, verglichen mit 41 % in der gesamten Wirtschaft der EU-27. Die kreativen Arbeitskräfte sind in 21 der 27 Mitgliedstaaten jünger als die Gesamtbelegschaft." Obwohl der "Produktionsstau" auch andere Branchen wie etwa die Modeindustrie betrifft, meint Wiley, dass die Auswirkungen für die Theaterbranche tiefgreifender sind. "Denn Schauspieler müssen in der Lage sein, von heute auf morgen aufzutreten, wenn die Häuser wieder öffnen. Viele unserer Theater haben deshalb weiterhin vor leeren Rängen gespielt, einfach um das Niveau der Aufführung halten zu können".

Nach den von EY geschätzten Daten ist die Musikindustrie die am zweitstärksten eingebrochene Branche innerhalb der KKI. Im März 2021 veröffentlichte die International Federation of Musicians (FIM), eine Organisation, die Berufsmusiker in 65 Ländern weltweit und in allen Mitgliedsstaaten der EU vertritt, einen Bericht, der die Auswirkungen von COVID19 auf den Sektor sowie die Reaktionen der Regierungen darauf beschreibt. Laut dem Generalsekretär der FIM, Benoît Machuel, ist die Covid-Krise "die für die Branche schlimmste aller Zeiten". Seine Einschätzung wird von Berichten in The Guardian bestätigt, denen nach sich die Zahl der Akteure der britischen Musikindustrie bis 2020 halbieren könnte. Ähnlich schrieb das finnische Online-Medium Yle, dass die Musikindustrie des Landes im Jahr 2020 um 75 Prozent eingebrochen sein könnte. 

„Dafür brauchen wir die Unterstützung der breiten Öffentlichkeit. Alle lieben Musik. Ohne Musik würden die Leute gerade jetzt verrückt werden. Aber sie halten es für selbstverständlich, dass sie gratis aus dem Smartphone kommt. Ihnen ist oft gar nicht bewusst, wie viel Arbeit für die Künstler dahinter steckt und wie viel Talent es dafür braucht.“

benoît Machuel

Darüber hinaus besteht jedoch auch die Meinung, dass die Covid-Krise nur bisher bestehende Missstände verschärft hat. Was den Live-Musiksektor angeht, haben “die Regierungen in zahlreichen europäischen Ländern in den letzten Jahren bereits beschlossen, den öffentlichen Beitrag zur Kultur zu reduzieren", sagt Machuel. Und das spricht Bände, da anders als in den USA und in Kanada der europäische Kultursektor schon immer hauptsächlich öffentlich finanziert wurde. "In Italien zum Beispiel war die Lage in den letzten fünfzehn Jahren bereits sehr schwierig, weil die Gelder schrittweise reduziert wurden".

Und man sollte sich auch die Frage stellen, "wer eigentlich das Geld verdient in der Musikindustrie? Die Telekommunikationsunternehmen und die Gerätehersteller, welche die Aufnahmen produzieren und die Rechte an die Vertreiber verkaufen". Dazu kommt, dass Musik immer mehr online über Streaming-Plattformen vertrieben wird. Das Problem dabei ist, dass "diese Vertriebssysteme auf Exklusivrechten beruhen. In dem Moment, in dem Künstler diese Verträge unterschreiben, treten sie ihre Nutzungsrechte an die Produzenten ab, entweder gegen eine Pauschale - das ist in der Regel der Fall für nicht-featured Artists, die ihren Namen nicht auf dem Frontcover haben - oder gegen Tantiemen - im Fall der featured Artists". 

Äußerst problematisch dabei ist, dass während der COVID19-Krise, als die Live-Konzerte abgesagt wurden, Musiker ihre Einnahmen ausschließlich über diese Streaming-Plattformen erhalten haben. "Dabei heraus kommt fast gar nichts. Erst jetzt wird uns wirklich klar, dass das Geld, das den Künstlern aus der Nutzung ihrer Aufnahmen im Internet bleibt, ein Witz ist. Es ist höchste Zeit, dass wir für bessere Bedingungen kämpfen", erklärt Machuel. Diese Meinung vertritt auch die für den Mercury-Preis nominierte Songwriterin Nadine Shah in The Guardian. Sie erinnert daran, wie #BrokenRecord und #FixStreaming zu Referenz-Hashtags in der Twitter-Debatte über die (Un-)Fairness der Geschäftsmodelle von Streaming-Plattformen seit Beginn der Pandemie wurden. 

Tatsächlich ist es absurd, dass ausgerechnet in dieser Krise, in der die Menschen zu Hause chillen und Streaming-Musik hören, die kreativen Köpfe dahinter in Existenznot geraten. "Jetzt ist der Moment, um die Ungerechtigkeiten dieses Systems zu bekämpfen", sagt Machuel. "Dafür brauchen wir die Unterstützung der breiten Öffentlichkeit. Alle lieben Musik. Ohne Musik würden die Leute gerade jetzt verrückt werden. Aber sie halten es für selbstverständlich, dass sie gratis aus dem Smartphone kommt. Ihnen ist oft gar nicht bewusst, wie viel Arbeit für die Künstler dahinter steckt und wie viel Talent es dafür braucht. Und selbst wenn sie dafür zahlen, verstehen die Leute nicht, dass das Geld gar nicht an die Künstler geht, oder nur viel zu wenig davon. 

In Partnerschaft mit der European Data Journalism Network

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