Neue Wege in der Gesundheits- und Umweltpolitik durch tierversuchsfreie Forschung

Der jüngste Fall von Tierquälerei in einem spanischen Labor sorgte in Europa für Empörung. Alternativen zu Tierversuchen zu entwickeln ist nicht nur eine ethische und moralische Notwendigkeit, sondern kann auch die Umweltverschmutzung effektiv eindämmen, also die häufigste umweltbedingte Ursache für Krankheiten und Todesfälle weltweit.

Veröffentlicht am 23 April 2021 um 14:40

Ein Video von inakzeptabler Grausamkeit und Tierquälerei in einem spanischen Testlabor, machte vor Kurzem Schlagzeilen und löste viele Reaktionen aus. Der 24. April ist der internationale Tag zur Abschaffung der Tierversuche. Ziel dieses Gedenktags ist die Förderung von Tierversuchsalternativen, die derzeit die Toxikologie revolutionieren – ein Forschungsgebiet, in dem die Europäische Union ihre Fördermittel für die Sicherheitsbewertung von Chemikalien deutlich aufgestockt hat.

Rund 10 Millionen Tiere – vor allem Nagetiere, aber auch Primaten, Katzen und Hunde – werden jährlich innerhalb der EU in der wissenschaftlichen Forschung eingesetzt. Zahllose Säugetiere müssen weltweit für Tests an unterschiedlichsten Substanzen ihr Leben lassen. Die EU-Richtlinie 2010/63/EU stellt hohe Anforderungen an Tierschutzstandards und dient dem Schutz von Labortieren. Darin sind die Grundsätze der Vermeidung, Verminderung und Verbesserung („3R“) verzeichnet und sie schreibt – sofern vorhanden – die Anwendung alternativer Lösungen, der so genannten „New Approach Methodologies (NAM)“ vor. 

2013 erließ die EU ein Verbot von Tierversuchen für Inhaltsstoffe die ausschließlich in Kosmetika verwendet werden und zeigte damit der Welt, dass eine Abkehr von Tierversuchen möglich ist. Humane Zelllinien und Gewebe, so genannte Organ-on-a-Chip-Systeme (in vitro) und fortschrittliche Techniken zur Computermodellierung (in silico) gehören zu den verfügbaren alternativen Methoden zur Überwindung der Einschränkungen durch Tierversuche.

Tierversuche sind langsam, teuer und für Tests bestimmter Produkte manchmal unzuverlässig, die Ermittlung schädlicher Substanzen kann dadurch verzögert werden – zudem werden sie von Nichtregierungsorganisationen und Bürger*innen gleichermaßen abgelehnt. Beispielsweise hat sich gezeigt, dass die Hälfte der Tierversuche zur Entwicklung pharmazeutischer Produkte aufgrund von Unterschieden zwischen den Spezies überhaupt nicht relevant waren. Außerdem steigt die Frustration über aktuelle Konzepte zur Beurteilung der Sicherheit von Chemikalien, die sich zum korrekten Extrapolieren von Risiken für die menschliche Gesundheit zu stark auf Tierversuche stützen. 

Die Menge und Vielfalt der verwendeten Chemikalien nimmt beträchtlich zu. Tausende Substanzen wurden noch nie auf ihre Toxizität getestet und die weltweite Produktion von Chemikalien dürfte sich bis 2030 verdoppeln. Zwar wird die Umweltverschmutzung für jeden zehnten Todesfall weltweit verantwortlich gemacht, aber dennoch müssen dringend und schneller zuverlässige ethische Lösungen für den vernünftigen weltweiten Umgang mit chemischen Produkten gefunden werden, ohne dafür mehr Tierversuche durchzuführen.

Die EU investiert dafür in den kommenden fünf Jahren 60 Millionen Euro in drei internationale Projekte, die sich ausschließlich der Weiterentwicklung der regulatorischen Toxikologie ohne Tierversuche widmen. Das Budget hierfür hat sich im EU-Haushalt 2020 im Vergleich zum letzten Förderzeitraum mehr als verdoppelt. 

Im März 2021 starteten 15 Organisationen unter Führung der Universität Birmingham das Projekt PrecisionTox. Es konzentriert sich auf menschliche Zelllinien und eine Reihe biomedizinischer Modellorganismen wie Fruchtfliegen, Wasserflöhe, Rundwürmer und Embryonen von Zebrafischen und Fröschen. Diese nicht empfindungsfähigen Organismen werden juristisch nicht als Tiere betrachtet und haben evolutionsbedingt viele Gene mit dem Menschen gemeinsam. Mit diesen schnell zu testenden, 3R-konformen und kosteneffizienten Modellen können die Ursprünge der der evolutionären Beziehungen bei Tieren nachverfolgt und so durch Chemikalien ausgelöste Gesundheitsschäden für alle Tiere – auch Menschen – prognostiziert werden.

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Unter der Koordination der Freien Universität Brüssel beginnt am 1. Mai 2021 das ONTOX-Projekt mit dem Ziel, innovative tierversuchsfreie Methoden zu entwickeln, die chronische Toxizität bei Menschen vorhersagen können und dabei die individuelle Exposition berücksichtigen. Die von den 18 Begünstigten entwickelten neuen alternativen Konzepte (NAMs) setzen auf Ontologie und künstliche Intelligenz zur Messung der von jeglichen Chemikalien (Pharmazeutika, Kosmetika, Nahrungsmittel und Biozide) herbeigeführten toxischen Auswirkungen auf Leber, Nieren und Gehirn, sind aber gleichermaßen auf andere Organe und Organsysteme anwendbar.

Eu-ToxRisk – ein durch einen früheren Zuschuss von 27 Millionen Euro begünstigtes Projekt, das sich derzeit in seiner Schlussphase befindet – wird im Juni durch das Nachfolgeprojekt  Risk-Hunt3r ersetzt. Das aus 37 Partnern bestehende Projektkonsortium wird auf seinen neuesten Erfahrungen aufbauen und so unter der Leitung der Universität Leiden neuartige Leitlinien für tierversuchsfreie Risikobewertungen vorantreiben. Risk-Hunt3r kombiniert menschliche Expositionsszenarien, in-vitro-Tests und computergestützte Methoden, um Daten zu Toxizitätsmechanismen zu erlangen und so in einem wirklich auf den Menschen zentrierten Ansatz die Wege toxischer Reaktionen zu ermitteln. 

Der Fortschritt in Richtung eines Ersatzes für Tierversuche wird sich in aufsichtsrechtlichen und industriellen Praktiken niederschlagen, die die Identifikation, Klassifizierung und letztlich Entfernung gefährlicher Substanzen aus der Umwelt ermöglichen und so Menschen und Ökosysteme besser schützen. 

In ihrem „Green Deal“ kündigte die Europäische Kommission das Ziel einer Nullverschmutzung an. Die Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit ist einer der ersten Schritte zu einer „giftstofffreien Umwelt“ und dürfte zu einer umfangreichen Überarbeitung des EU-Rechtsrahmen wie zum Beispiel der Kosmetikverordnung führen. Die alternativen Methoden könnten die Wissenslücke schließen, die Risikobewertungsstellen und Aufsichtsbehörden Probleme bereitet, und gleichzeitig mit schnelleren, zuverlässigeren und ethischen Lösungen eine Möglichkeit bieten, der steigenden Anzahl an Chemikalien Herr zu werden, deren Toxizität noch immer unbekannt ist.


Dieser Artikel wurde von einem Mitglied der Voxeurop-Community geschrieben. Er wurde von der Redaktion geprüft, gibt aber nicht unbedingt die Meinung von Voxeurop wieder.


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