Ideen Archipel Jugoslawien | Bosnien und Herzegowina

Die apokalyptische Uhr

Für den bosnischen Kultautor Faruk Šehić brach 1992 eine neue Zeitrechnung an, als seine Stadt von serbischen Extremisten angegriffen wurde, was ihn erst zum Flüchtling und später zum Soldaten machte. Seitdem tickt in ihm eine “apokalyptishe Uhr”. Auch heute, 30 Jahre später noch.

Veröffentlicht am 16 August 2021 um 13:54

Die Zeit meines persönlichen Kataklysmus beginnt am 21. April 1992. An diesem Tag griffen bewaffnete serbische Extremisten, unterstützt durch die ehemalige Jugoslawische Volksarmee, meine Stadt an. Es waren unsere ‘Nachbarn’, Mitbürger, die sich in einer konzertierten Aktion aus der Stadt zurückgezogen hatten, um uns von den umliegenden Bergen her anzugreifen.

Der Angriff auf mein Land hatte schon vor diesem Datum stattgefunden, denn bis zum 21. April waren bereits viele Städte an der Ostgrenze zu Serbien, das damals noch Jugoslawien hieß, zerstört. In dem Moment, in dem Slowenien, Kroatien sowie Bosnien und Herzegowina Jugoslawien verlassen hatten, hörte dieser Staat in unser aller Bewusstsein nominell auf zu existieren. Doch dieser Staat stellte sich gegen uns alle, die wir ihn liebten und auf jede erdenkliche Weise zu seinem Erfolg beigetragen hatten.


Archipel Jugoslawien:

  1. Das leichte Leben
  2. Leben am Tatort
  3. Die apokalyptische Uhr
  4. 30 Jahre Archipel Jugoslawien
  5. Ich schreibe nicht über Krieg, weil ich es will, sondern weil ich keine andere Wahl habe
  6. Brüderlichkeit und Einigkeit

Jeder Bürger von Bosnien und Herzegowina trägt diese zwei Uhren, diese zwei Zeitrechnungen tief in seinem Bewusstsein, in Leib und Seele sowie im Herzen.

Die erste Uhr fängt dort an zu schlagen, wo alles offiziell begonnen hat, die zweite ist eine wesentlich wichtigere, persönlichere Uhr, sie misst die Zeit ab dem Moment der Vertreibung aus dem eigenen Haus. Sie misst die Zeit, seit der man zum Flüchtling wurde, oder sie zählt die Stunden seit dem Moment der eigenen Verwundung, dem Kriegstod einer nahestehenden Person. Manche Uhren sind zum Abzählen bis zur Todesstunde bestimmt. In meiner Stadt ticken fünfhundert Soldatenuhren so lange, wie wir, die Überlebenden, existieren. Solange wir uns an unsere toten Freunde, Verwandten und Mitkämpfer erinnern.

Was die persönliche Uhr alles misst, kann man unmöglich zu Papier bringen. Ich versuche das schon die letzten 20 Jahre, seit ich als Schriftsteller öffentlich auftrete, doch ich weiß, dass ich mich kaum vom Ausgangspunkt entfernt habe. Schon die Tragödie eines einzelnen Menschen ist unbeschreiblich, hier aber reden wir von der Tragödie Hunderttausender Menschen aus diesem Land.

Diese persönliche Uhr ist die apokalyptische Uhr. Jeder Mensch hat eine. Der Krieg ist die Apokalypse, nur war damals niemand da, um uns das zu sagen. So wie auch nach dem Krieg niemand da war, um uns zu sagen, dass wir im postapokalyptischen Zeitalter leben. Lediglich den Fachbegriff ‘Post-Konflikt-Gesellschaft’ haben uns wohlmeinende Menschen aus dem Ausland verliehen, der erklären sollte, in was für einer Gesellschaft wir da jetzt leben.

Die kühle Terminologie der Wissenschaftssprache wird der apokalyptischen Uhr in keiner Weise gerecht. Sie erkennt sie nicht an, denn der Terminus ‘Post-Konflikt-Gesellschaft’ kennt nur die sogenannten Kriegsparteien. Nicht in jedem Krieg gibt es Kriegsparteien, es gibt die angegriffene Partei und die angreifende. Deshalb ist dieser Begriff völlig falsch, genau wie der Begriff Bürgerkrieg falsch und schändlich ist, mit dem der ‘wohlmeinende’ Fremde unseren Krieg, unsere Apokalypse beschreiben möchte. 

Die Apokalypse besteht nicht aus den physisch zerstörten Städten, Dörfern, Brücken, Geburtskliniken oder Friedhöfen. Für mich ist die Apokalypse jener Moment, in dem alle Werte der bürgerlichen Gesellschaft einstürzen. Wenn alles, was schrecklich, unnormal und fürchterlich ist, völlig normal, gesellschaftlich akzeptabel und sogar wünschenswert wird.

Diese Apokalypse geschieht vor der eigentlichen physischen Zerstörung. Sie geschieht leise und unsichtbar. Der aufmerksame Zeitungsleser kann ihre Vorzeichen erkennen. Allzu oft ist dies eine Entmenschlichung bestimmter sozialer Gruppen, Individuen oder ganzer Völker.

Die Apokalypse besteht nicht aus den physisch zerstörten Städten, Dörfern, Brücken, Geburtskliniken oder Friedhöfen. Für mich ist die Apokalypse jener Moment, in dem alle Werte der bürgerlichen Gesellschaft einstürzen. Wenn alles, was schrecklich, unnormal und fürchterlich ist, völlig normal, gesellschaftlich akzeptabel und sogar wünschenswert wird.

So erschien beispielsweise in der Zeitung Kozarski Vijesnik aus Prijedor vor dem Beginn des Krieges 1992 eine Reihe von Texten, in denen Einwohner bosnischer, kroatischer und weiterer Nationalitäten entmenschlicht wurden. In dem konkreten Fall berichteten der Kozarski Vijesnik und Radio Prijedor von einem angehenden Facharzt der Gynäkologie aus Prijedor, Dr. Željko Sikora, der “bei Serbinnen, die mit männlichen Föten schwanger waren, Abbrüche hervorrief und serbische Neugeborene kastrierte”. Obwohl ethnischer Tscheche, war dieser im Bewusstsein der Bösewichte Kroate, denn alle Kroaten wurden damals von serbischen Nationalisten mit Ustaschas gleichgesetzt.

In der Belgrader Tageszeitung Ekspres politika wurde er “Monster-Doktor” genannt. Im Bericht der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien an die Expertenkommission der UN unter »Indizien über Täter im unmenschlichen Umgang mit Zivilisten in Prijedor 1989-1992« wird Dr. Željko Sikora (gemeinsam mit zwei Ärzten bosniakischer Nationalität) erwähnt. Als ihr Hauptvergehen wird angeführt: “Systematische Drosselung der Geburtenrate unter der serbischen Bevölkerung im Bereich der Gemeinde Prijedor mittels Kastration von Neugeborenen serbischer Nationalität. (...) Durch Anwendung verschiedener Medikamente und Experimente machten sie Kinder im Krankenhaus von Prijedor zeugungsunfähig, stellten absichtlich Fehldiagnosen und gaben Erwachsenen serbischer Nationalität die falschen Medikamente.”

Als Folge solcher Anschuldigungen durch die Medien wurde Dr. Željko Sikora im Konzentrationslager Keraterm genauso wie Tausende seiner Mitbürger ‘falscher’ ethnischer Zugehörigkeit (in anderen Lagern) ermordet. Sein Leichnam wurde neben einem Müllcontainer auf dem Gelände des Lagers gefunden. Bevor man ihn tötete, war er täglich verprügelt worden.

Der Kozarski Vjesnik erscheint bis heute regelmäßig. Wenn man Željko Sikora als Suchbegriff ins Zeitungsarchiv eingibt, bekommt man überhaupt keine Information. Željko Sikora war der letzte männliche Nachkomme der Familie Sikora. Für seine »Verbrechen« wurde nie auch nur ein einziger Beweis gefunden, ebenso wenig wurde er je vor Gericht gestellt. Auch ist sein Name bis heute nicht von der Verleumdung reingewaschen.

Die Entmenschlichung und Dämonisierung von Gruppen, Einzelpersonen und ganzen Völkern währte schon lange vor dem unmittelbaren Kriegsbeginn auf dem Territorium des auseinanderfallenden damaligen Jugoslawiens. Das Ziel dieser Vorgehensweise war es, die gewöhnlichen Menschen auf Morde, Massaker und schließlich auch auf den Völkermord selbst als etwas vollkommen Gewöhnliches vorzubereiten.

Am 21. April 1992 wurde ich erstmals zum Flüchtling, und ich werde wohl nie mehr so ganz aufhören, ein Flüchtling zu sein, denn das ist nicht nur ein Status in der Kartei des Roten Kreuzes, sondern das Gefühl der fehlenden Zugehörigkeit in einem drin, zu nichts und niemandem. Ich liebe das Land, in dem ich lebe, aber nicht als Staat, nur als Land: als Summe von Landschaften und Naturschönheiten.

Wenn du Flüchtling wirst, ist das kein physischer Schmerz, es ist ein völlig schmerzfreier Vorgang, aber es gibt andere, unsichtbare Teile von dir, die noch jahrelang an fürchterlichen Phantomschmerzen leiden werden. In der Medizin verwendet man diesen Begriff, wenn ein Bein wehtut, das man nicht mehr hat, das einem abgeschnitten wurde. Uns hat man von unserem Vorkriegsleben abgeschnitten, und diese Phantomschmerzen sind etwas, das wir mit ins Grab nehmen werden.

Am 21. April 1992 wurde ich erstmals zum Flüchtling, und ich werde wohl nie mehr so ganz aufhören, ein Flüchtling zu sein, denn das ist nicht nur ein Status in der Kartei des Roten Kreuzes, sondern das Gefühl der fehlenden Zugehörigkeit in einem drin, zu nichts und niemandem. Ich liebe das Land, in dem ich lebe, aber nicht als Staat, nur als Land: als Summe von Landschaften und Naturschönheiten.

Man wird mit der eigenen Biographie konfrontiert und muss sie annehmen wie alle Narben, die man an Leib und Seele trägt. Auf diese Weise kommt man immer vorwärts, denn das Einzige, was im Krieg nicht von einer Artilleriegranate zerstört werden kann, ist das Leben selbst. Der Wunsch nach Leben ist größer und stärker als alles.

Also griff ich zur Waffe und wurde Soldat.

Oft werde ich bei Lesungen im Ausland gefragt, ob ich Freiwilliger war. Für mich ist das immer ein Problem, denn wie soll ich den Leuten erklären, dass ich aus meiner Wohnung, meiner Straße und meinem Viertel vertrieben wurde, nur weil ich eine andere Augenfarbe hatte. Natürlich griff ich im selben Moment zur Waffe, eigentlich hatte ich nur eine Pistole, denn im April 1992 waren wir nicht gerade üppig bewaffnet.

Die ‘Außenwelt’ in Form der Vereinten Nationen verhängte ein Waffenembargo gegen unser Land. So waren wir dem bis auf die Zähne bewaffneten Feind auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Der Grund, weshalb man uns im Stich ließ, liegt darin, dass die feindliche Propaganda uns sehr erfolgreich als Fremdkörpergewebe im Leib Europas darstellte. Wir wurden als ‘blutrünstige Moslems’ bezeichnet, ‘die grüne Gefahr’, ‘Mudschahedin’, obwohl viele von uns Atheisten waren, säkulare Bürger, Jugoslawen, Bosnier, Linke, Kosmopoliten, Waver, Punker usw. All diese Identitäten wurden getötet und unter die Erde verfrachtet. Während das geschah, sprachen einzelne hochrangige europäische Politiker von der ‘schmerzlichen und qualvollen Restauration des christlichen Europa’. Wir waren Versuchskaninchen bei der Entwicklung der heutigen globalen Islamophobie.

Ich war mitnichten ein Freiwilliger, denn es war für mich keine Frage des freien Willens, zum Gewehr zu greifen, vielmehr war ich gezwungen, für mein biologisches Überleben zu kämpfen. Wir waren im April 1992 bereits von allen Seiten umzingelt, weshalb es nicht möglich war, dem Krieg zu entfliehen und aus sicherer Entfernung den Klugscheißer-Pazifisten zu geben, der sich zynisch über die Kriegsparteien äußert.

Wir waren Versuchskaninchen bei der Entwicklung der heutigen globalen Islamophobie.

Über meine Erfahrungen im Krieg und als Soldat habe ich zahlreiche Gedichte, Kurzgeschichten, einen Roman und viele journalistische Texte geschrieben, weshalb es überflüssig wäre, alles zu wiederholen. Ich war Angehöriger der Armee von Bosnien und Herzegowina, nicht irgendeiner ‘muslimischen’ Armee, wie uns unser Feind und die ausländischen Beobachter von 1992-95 nannten. Einmal wurde ich schwer am linken Fuß verwundet. Ich ging ein halbes Jahr an Krücken. Danach kehrte ich zu meiner Einheit zurück und tat den gleichen Dienst wie vor der Verwundung. Ich wurde Zugführer (die Säule einer jeden Armee) und führte gegen Kriegsende 130 Mann in offensiven Aktionen an. Wie die meisten Menschen in Bosnien und Herzegowina hatte auch ich PTBS, dessen Auswirkungen erst spürbar werden, wenn der Krieg zu Ende ist.

Für meine militärischen Fähigkeiten wurde ich während des Krieges und danach mehrfach ausgezeichnet.

Als der Krieg vorbei war, versuchte ich das zu sein, was ich vor dessen Anfang war, ein Student der Veterinärmedizin im dritten Studienjahr. Doch schnell ließ ich das wieder sein und schrieb mich für Literatur ein. Ich begann täglich auf einer Olympia Monica von 1967 zu schreiben. Ich wollte Schriftsteller werden und wurde es.

Im Manuskript meines Romans Zimtbriefe gibt es folgende Passage, die am besten abbildet, in was für einer Welt wir da lebten, nachdem der Krieg nur formal zu Ende war:

Das war keine ruin bar, jedenfalls war es das noch nicht geworden. Und wir nannten es Zauberwürfel, nicht weil es würfelförmig oder gar zauberhaft war, sondern weil das gut klang.

Wir kamen jeden Tag dorthin, zur täglichen und nächtlichen Therapie. Die ganze Stadt war eigentlich eine riesige Freiluft-ruin-bar, während der Zauberwürfel aufgeräumt, sauber und ziemlich neu war. Ich weiß nicht, woher der Hauptmann die für die Inneneinrichtung notwendigen Dinge besorgt hatte, aber sie waren da und glänzten wie die längst verlorenen Sonnen irgendeines Friedens. 

[…]

Die Kellner hatten wohl Nerven wie Drahtseile, denn unser erster Krieg war gerade erst zu Ende. Wir konnten damals nicht wissen, dass dies erst unser erster Krieg war. Wer hätte wissen können, was passieren würde, wenn wir alles, was wieder aufzubauen war, in Gänze wieder aufgebaut hätten? Erst flickten wir die Häuser, bauten sie neu. Die Innenausbauten in uns selbst gingen nur langsam vonstatten. Unsichtbare Brandschäden waren schwerer zu beseitigen. Ersatzteile für den Innenaufbau standen uns nicht zur Verfügung, denn der Rest der Welt hatte uns vorübergehend aus den modernen Abläufen der Zivilisation ausgeschlossen. Und auf Krieg folgt Korruption und die Fortsetzung des Krieges mit friedlichen Mitteln; der Nationalismus wuchert wie Unkraut und ist nur schwer aufzuhalten. Manche Dinge geschehen hinter den Kulissen. Unsere Kulisse sind Ruinen voller kalter Asche, etwas ist außerhalb unseres Willens und wächst, obwohl wir es nicht beachten, da wir mit unseren eigenen Wunden beschäftigt sind.

Wunden sind wichtig, und es ist notwendig, die eigenen Wunden und die der Stadt zu versorgen. Dass wir uns nicht mit dem Hass beschäftigt haben, heißt nicht, dass er nicht in der Stille seines Amtes gewaltet hat. Die Schrecken des Krieges haben uns vom Hass geheilt. Nur, wer im Krieg alles Mögliche erlebt hat, weiß, dass der Hass den Menschen eingetrichtert wird, um die stets gleichen Kriegsziele leichter zu verwirklichen – Kampf ums Territorium und den Reichtum, den dieses mit sich bringt.

In vielen Menschen existiert der Hass bereits und muss nicht mehr angestachelt werden. Das Böse hat Vor- und Nachnamen, Augenfarbe, Finger, Brusthaare, Muttermale und Leberflecke, Narben vom Bolzplatz. Das Böse ist familientauglich, mag Kinder, das Böse ist sozial, verkehrt in Vorkriegscafés, hat ein breites Lächeln und noch alle Zähne im Kopf. Es ist das kleinbürgerliche, graue Böse. Es gibt auch ein anderes, besoffenes Böses, das Lumpenproletariat mit Zahnlücken. Es ist schwierig, das mit dem Bösen einfach zu klassifizieren, es entzieht sich jeder Beschreibung und Klassifizierung.

Das Böse ist nie banal.

Wir tranken im Zauberwürfel, das wünschten wir uns sehnlichst, uns fiel nichts anderes ein, was wir hätten tun sollen oder können. Da spazierten keine Psychologen oder Psychiater mit Zauberkapseln herum, um uns zu heilen. Auf den Straßen war niemand, bis auf uns und die streunenden Hunde, die die Heimkehr der menschlichen Wärme spürten und deshalb kamen, um sich aufzuwärmen. Medizin brauchten wir nicht, dachten wir, wie hätten wir das auch denken sollen, wenn wir uns selbst nicht für krank hielten. Wir waren nicht krank, es waren eben solche Zeiten.

Keiner von uns wusste, was die Abkürzung PTBS überhaupt bedeutete. Wir überließen uns einfach nur dem Lauf der Friedenszeit. Den unendlichen Diskussionen im Zauberwürfel. Vielleicht heilte uns das auch, denn ich erinnere mich an einen Moment, in dem das Xanax nicht wirkte. In dem es mir nicht half, als ich die Hitze aus dem Bauch in Brust und Kopf hochsteigen spürte, eine heftige Energie, wegen der ich befürchtete, in Flammen zu geraten und den Raum zu erhellen wie eine Leuchtrakete, allein, versteckt irgendwo auf der Brandstätte des Handwerkszentrums, erleuchtet von Mondschein, im Schatten des gesprengten Gotteshauses, dessen Turm in Richtung Erde und Unterwelt zeigte.

Je mehr das normale Leben in seine gewohnten Bahnen zurückkehrt, umso mehr Raum nimmt die Angst vor dem Tod ein. Uns selbst überlassen, lösten wir das mit Alkohol und leichten Betäubungsmitteln, wenn die Tabletten schon nicht wirkten. Wir dachten, der übermäßige Lebensgenuss würde uns eher in die zivile Normalität zurückbringen.

Wenn man einen Krieg überlebt hat, sollte man am besten sofort aus dem betreffenden Teil der Welt wegziehen und niemals zurückkehren. Warum hatte uns das niemand sagen können? Selbst wenn es uns jemand gesagt hätte, hätten wir ihm nicht geglaubt. Wir hätten weiter unser Ding gemacht.

Wo endet und wo beginnt unser erster Krieg? – ist eine Frage, die wir uns oft stellten, bis wir die Lust daran verloren, uns das zu fragen.

Was mich gerettet hat, war die Liebe, ein starker Glaube an das Leben als sinnvolle Ordnung der Dinge in Zeit und Raum, als Zeit und Raum noch linear waren. Denn mit den ersten Granaten verloren Zeit und Raum und alle anderen Dimensionen ihre unschuldige Geradlinigkeit unwiederbringlich. Wir versuchten die Schäden am linearen Verlauf von Zeit und Raum und allen anderen Dimensionen zu reparieren, aber es gelang uns nicht. In der nichtlinearen Welt wollten wir lineare Individuen sein. Es lief nicht. Selbst wenn wir gewusst hätten, dass es einmal in der Zukunft modern sein würde, vintage Gegenstände zu schätzen, vintage Poetik, Retro-Style, hätten wir uns nicht für irgendwelche Vorreiter gehalten, denn unser Leben war kein modischer Stil. Der Gegenwart hinterhertrauern kann man erst, wenn man alles verloren hat, wenn die eigene Zeit und der Raum unumkehrbar annulliert sind. Wir waren keine Hipster, obwohl wir alte und ungewöhnliche Dinge mochten.

Zwar kamen Leute aus dem Ausland und boten Kurse für das Weiterleben nach der Apokalypse an, doch ich nahm das nicht ernst, kaum jemand konnte das ernst nehmen. Wie hätten sie auch wissen können, wie wir leben sollen, wenn sie selbst noch nie einen Krieg überlebt hatten?

Dieser Textausschnitt zeigt, wie die apokalyptische Uhr schlägt, nachdem die Apokalypse auch offiziell zu Ende ist. Sie setzt ihre Arbeit fort. Eine Apokalypse überleben heißt nicht nur physisch den Krieg und die allgegenwärtige Zerstörung zu überleben. Viele glauben nur, sie hätten überlebt, doch der Krieg hat sie in ihrem Wesen entwertet und die Fortsetzung des Lebens in Friedenszeiten für sie unmöglich gemacht. Sie sind Kriegszombies, denn sie kommen aus dem Krieg nie wieder heraus. Er regiert ihren Verstand, ihre Nerven.

Meine apokalyptische Uhr schlägt nun schon das 29. Jahr seit meinem persönlichen Kriegsbeginn. Ich habe gelernt, mit dem Ticken dieser Uhr zu leben. Diese Uhr ist ein Teil von mir und sie stört mich kein wenig, denn ich kann darüber schreiben. Ich habe mich mit ihrem Ticken synchronisiert. 

In vielen Menschen existiert der Hass bereits und muss nicht mehr angestachelt werden. Das Böse hat Vor- und Nachnamen, Augenfarbe, Finger, Brusthaare, Muttermale und Leberflecke, Narben vom Bolzplatz. Das Böse ist familientauglich, mag Kinder, das Böse ist sozial, verkehrt in Vorkriegscafés, hat ein breites Lächeln und noch alle Zähne im Kopf. Es ist das kleinbürgerliche, graue Böse. Es gibt auch ein anderes, besoffenes Böses, das Lumpenproletariat mit Zahnlücken. Es ist schwierig, das mit dem Bösen einfach zu klassifizieren, es entzieht sich jeder Beschreibung und Klassifizierung. Das Böse ist nie banal.

Den wenigsten Menschen ist dieses Glück beschieden, aber sie kommen irgendwie klar und überleben die Schrecken des Friedens, denn wir wissen, dass das Leben größer und stärker ist als alles Böse, als die Vernichtung und jede Art von Apokalypse.

Ach so, und falls sich jemand fragt, ob ich Menschen getötet habe: Ja, ich habe feindliche Soldaten im Nahkampf auf dem Schlachtfeld getötet. Da gibt es keine Reue. Krieg ist leider die älteste Beschäftigung des Menschen. Wer überlebt, kann erzählen, kann schreiben. Es ist ein großes Privileg derer, die keine Erfahrung von Krieg oder Flucht und keinerlei traumatische Grenzerfahrung haben, den Überlebenden zuzuhören, damit es nie wieder Krieg gibt, für niemanden. Dies ist ein utopischer Wunsch, der vielleicht eines Tages in Erfüllung gehen mag. Ich glaube ganz fest an eine solche Utopie.


Dieser Artikel ist Teil des Projekts Archipel Jugoslawien von Traduki. Er wird in Zusammenarbeit mit der S. Fischer Stiftung veröffentlicht.


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