Ideen Archipel Jugoslawien | Slowenien

30 Jahre Archipel Jugoslawien

Der slowenische Schriftsteller Drago Jančar war Mitte Vierzig, als Jugoslawien kaputt ging. Lange konnte er nicht glauben, dass die von ihm geliebte kulturelle Vielfalt seines Landes verloren war. Heute, 30 Jahre nach dem Krieg, blickt er mit Nostalgie und Wut auf den Vielvölkerstaat, der seiner Ansicht nach vor allem an der Diktatur zerbrochen ist.

Veröffentlicht am 23 August 2021 um 14:23

Wenn das gemeinsame Leben in einer Ehe unerträglich wird, entscheiden sich die Eheleute für eine Scheidung. Und wenn dies nach langen und mühseligen Gesprächen, nach schrecklichen und allseitig erniedrigenden Formalitäten endlich eintrifft, kommt auf beiden Seiten eine gähnende Leere zum Vorschein. Die Leere einer ausgeräumten Wohnung, die Leere einer menschlichen Amputation, der leere Klang der Stille dessen, was fehlt. Und dies obwohl es zahlreiche Konflikte gegeben hat, jawohl, sogar Hassgefühle. Aber wo Hass herrscht, da herrscht auch Liebe, wie man in jedem Kolportageroman nachlesen kann. 

So sahen meine Gedanken im Jahr 1991 aus.

Dreißig Jahre später würde ich zu dem Titel, den Traduki für eine Essay-Serie über den jugoslawischen Archipel vorgeschlagen hat, als Sinnbild für den Zerfall dieses ehemaligen Staates eher den Roman von José Saramago Das steinerne Floß heranziehen. Darin erzählt der Autor die Geschichte der Pyrenäenhalbinsel, auf der ein winziger, mit einem Ulmenzweig gezeichneter Strich tektonische Verschiebungen auslöst, woraufhin sich die Halbinsel vom Kontinent abspaltet und zu einer Insel wird, ein steinernes Floß, das ins weite Meer hinausdriftet; die unfähigen Politiker und Reichen schaffen das Geld weg, die verlassenen Hotels an der Küste werden von Obdachlosen bezogen, ein Chaos entsteht.  


Archipel Jugoslawien:

  1. Das leichte Leben
  2. Leben am Tatort
  3. Die apokalyptische Uhr
  4. 30 Jahre Archipel Jugoslawien
  5. Ich schreibe nicht über Krieg, weil ich es will, sondern weil ich keine andere Wahl habe
  6. Brüderlichkeit und Einigkeit

Das mag uns vertraut vorkommen, etwas Ähnliches ist mit Jugoslawien passiert, und als dieses zu einem Archipel geworden war, brachen auf Grund von ein paar unsichtbaren Linien, die sich zwischen uns eingekerbt hatten, auch Brücken zwischen den Inseln ein, Fähren versanken, sogar Telefondrähte und Unterwasserkabel, die sie einst verbunden hatten, wurden gekappt. Für eine ziemlich lange Dauer. 

Nun fahren die Schiffe wieder und in den Kabeln surrt es nur so vor Kommunikation. 

Heute kann ich über Jugoslawien in literarischen Metaphern sprechen. Damals, anno 1991, hatte ich persönlichere Überlegungen. Wie hätte es anders sein können, wo ich bis zu diesem Jahr mein ganzes Leben im Staat mit diesem Namen verbracht hatte. Ich dachte an den Augenblick der Trennung zwischen Slowenien und Jugoslawien, ich verglich es sogar mit äußerst persönlichen Erfahrungen, das heißt mit den Geschichten von Freunden und Verwandten, denen solche Dinge widerfahren waren. 

Die mühsamen Gespräche laufen bereits, die habgierigen Eheleute sind schon dabei, ihr Vermögen in Sicherheit zu bringen. Der Verstand sagt, so musste es kommen, da dieser Staat von Anfang an nicht gut aufgestellt war. Und dennoch: Wir haben unser ganzes Leben mit ihm, bei ihm, in ihm verbracht. Ich liebe Dalmatien, sentimentale Erinnerungen verbinde ich mit seinen weingetränkten Nächten, den betörenden Düften des Mittelmeers, dem kühlen Stein seiner Plätze und Kirchen, der Antike, der Renaissance, der Stille in den Gärten der katholischen Klöster auf den Inseln. Mit den bosnischen Flüssen, der Reziprozität der Kulturen und Religionen Sarajevos, dem Treiben orientalischen Handelns, dem Klopfen feiner Hämmerchen auf Kupfer in den Werkstätten der engen Gassen. Mit dem biblischen Mazedonien, der ratternden Sprache meiner mazedonischen Freunde, voller emotionaler und kluger Gedankensprünge.

Mit der breiten Donau, Novi Sad, wo wir bei Festivals bei Mandolinenmusik die vergänglichen Augenblicke des Theaterruhms feierten und die ebenso vergänglichen Augenblicke (ungerechter) Niederlagen in Wein ertränkten. Mit Belgrad mit seiner unendlichen Vitalität, mit seinen Morgendüften aus den unzähligen kleinen Bäckereien, den serbischen Kollegen mit ihrem schwarzen politischen Humor und ihrer Selbstironie, die heute verschwunden zu sein scheint. Mit Südserbien, Vranje, wo ich gegen meinen Willen als Soldat ein ganzes Jahr meines Lebens verbracht und nebst einer unangenehmen Kaserne auch die paradoxe Mischung aus orientalischer Genusssucht und orthodoxer Mystik erlebte; süßer Kummer, die Morava, slawische Lieder in Begleitung orientalischer Trommeln und Trompeten.

Und nicht zuletzt mit dem nahen Zagreb, das in diesem Text keinesfalls auf derselben Seite wie Belgrad würde stehen wollen oder gar – um Gottes willen! – Südserbien. Zagreb, mit seinen Augen nach Wien gerichtet und mit beiden Beinen am Balkan, Zagreb, das schon beinahe Slowenien ist, und dennoch etwas anderes, seine historische Pathetik, die kroatischen Schachbretter, der scharfe katholische Messianismus, das Zentrum einer Landschaft, die die westliche Zivilisation verteidigt: Antemurale Christianitatis. Jawohl, auch Zagreb sollte sich bald in einem anderen Staat wiederfinden, er wird Republik Kroatien heißen. Und nicht ohne einen Anflug von erschrockener Eigenliebe kann ich auch nicht umhin, an meine Bücher zu denken, die in den Regalen und in den Schaufenstern der Buchhandlungen in all diesen Städten lagen, in verschiedenen Sprachen, Schriften und Ausstattungen, auf den Bühnen großer und kleiner Theaterhäuser, wo die Schauspieler meine dramatischen Erdichtungen mit der Intensität von Körper und Geist erfüllten. 

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Soll all das wirklich verloren sein? 

So habe ich gedacht, geschrieben und gesprochen. 

Als auf Grund solcher Sätze meinerseits Predrag Matvejević notierte, ich sei ein Jugonostalgiker, und vorsichtig hinzufügte, in „kulturellem Sinne“, hatte er recht. Ich war es und bin es noch immer – aber wirklich der Kultur wegen – im engeren und weitesten Sinne. 

Auf Jugoslawien blicke ich manchmal mit Nostalgie zurück, manchmal mit Wut. Mit Nostalgie all seiner kulturellen Vielfalt und der Freunde wegen, mit Wut wegen der Diktatur und der dummen Politiker, die über sie herrschten. Wäre Jugoslawien eine Demokratie gewesen, wäre es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zerfallen. Es war jedoch eine Diktatur mit einem einzigen und unfehlbaren Staatsführer an der Spitze und einem mächtigen Apparat aus Militär, Polizei, Bürokratie, mit Pionierseiden, Ritualen in riesigen Stadien zu Titos Geburtstag.

Ich kannte Menschen, die in einem jugoslawischen Gulag auf der Insel Goli otok interniert waren, ich kannte solche, die ihre Väter auf Grund von revolutionärer Gewalt verloren hatten, auch solche kannte ich, die sich aus politischen Gründen, manchmal auch wegen eines einzigen falschen Satzes in einer Gesellschaft, eines Satzes oder Witzes über Tito oder einen anderen kommunistischen Führer, in einem Gefängnis wiederfanden. All das wurde mir jedoch erst in jenen Jahren klar, als ich ein heranreifender Junge war, und wenn einen jungen Menschen der gesunde Menschenverstand trifft, das heißt Wissen und ein Blick auf die Welt, dann geht auch Skepsis und Widerstand einher. Davor hatte ich mich der glücklichen Illusion hingegeben, dass es schön sei, „in unserer Heimat jung zu sein“, wie wir bei den Pionierfeiern gesungen hatten. 

Auf Jugoslawien blicke ich manchmal mit Nostalgie zurück, manchmal mit Wut. Mit Nostalgie all seiner kulturellen Vielfalt und der Freunde wegen, mit Wut wegen der Diktatur und der dummen Politiker, die über sie herrschten. Wäre Jugoslawien eine Demokratie gewesen, wäre es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zerfallen.

Jugoslawien war eine Diktatur, wenn auch viel freier als andere kommunistische Staaten. In den Sechzigerjahren wurden die Grenzen geöffnet, die Menschen sahen, dass sie besser lebten als in Ungarn oder der Tschechoslowakei. Der kulturelle Umlauf und die Schaffenskraft im Land waren viel offener. Anderswo in Osteuropa hätte man sich schwer vorstellen können, dass – wie in Ljubljana oder Belgrad – in den Auslagen der Buchhandlungen Werke von Solschenizyn, Kundera, Bunin, Camus oder Orwell lagen. Kritische Literaturzeitschriften wurden herausgegeben, es wurde viel übersetzt, die Theater waren ein aufregender Ort der Suche nach freien ästhetischen und gesellschaftskritischen Inszenierungen. Die sogenannte „Schwarze Welle“ (Crni talas) des jugoslawischen Films sorgte für einen beachtlichen künstlerischen Höhenflug und leistete beißenden Widerstand gegen die politische Eindeutigkeit. 

Offene Grenzen und kulturelle Freiheiten waren aber nicht gleichermaßen mit politischer Freiheit gleichzusetzen. Wir lebten in dem eigenartigen Paradox, dass der Staat mit seinem Einparteiensystem und allen Institutionen dennoch eine Diktatur blieb. Und die Menschen aus der Politik verstanden nicht, dass die Welt und Europa sich veränderten. Auch nicht, dass gerade infolge einer solchen politischen Ordnung und Mentalität die Wirtschaft zusammenbrach. In den Achtzigerjahren dachten wir über eine Umgestaltung Jugoslawiens in einen demokratischen und konföderativen Staat nach.

Angesichts der Quadratköpfe von Generälen und Menschen an der Parteispitze Jugoslawiens konnte dies allerdings nicht geschehen. Jugoslawien zerfiel nicht nur wegen der Nationalismen, der kulturellen und wirtschaftlichen Unterschiede; diese Unterschiede wirkten zwar zentrifugal, am Zerfall jedoch trug die Diktatur Schuld. Die Machthaber verstanden nicht, dass die Zeit für Veränderungen gekommen war. Ich denke noch heute, dass der große Staat nicht zu dem heutigen Archipel zerbröckelt wäre, wenn wir eine demokratische Ordnung gehabt hätten. Und wenn dies schon passiert wäre, wäre es nicht auf so fürchterliche Art und Weise passiert. 

Der Krieg brach aus, zuerst für kurze Zeit in Slowenien, wohin aus den Kasernen die Panzer der Jugoslawischen Volksarmee angerollt kamen, dann Kroatien, dann die Hölle in Bosnien und Herzegowina. Im Krieg war ich in Sarajevo und sah, was vor sich ging, das war eine schmerzhafte Erfahrung. Darüber schrieb ich den Reiseessay „Kurzer Bericht über eine lange belagerte Stadt: Gerechtigkeit für Sarajevo“ (Kratak izvještaj iz dugo opsjednutog grada). Viele Bekannte und Freunde hatten sich in jenen Jahren entfremdet, viele wurden vom Sog des Krieges, in dem sie sich für die eine oder andere Seite entschieden hatten, mitgerissen. 

Ende der Neunzigerjahre diskutierten wir als eine Gruppe von Schriftstellern aus allen neuen Staaten des damals bereits ehemaligen Jugoslawiens drei Tage lang in Frankfurt zur Zeit der Buchmesse. Wir wollten uns diesem unsinnigen Abriss aller kulturellen Bande, des Austausches und dieser völlig abgebrochenen Kommunikation zwischen den Inseln des Archipels entgegenstellen. Schließlich erstellten wir eine Erklärung über die Notwendigkeit einer Erneuerung der kulturellen Zusammenarbeit auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens.

Die Erklärung schickten wir mit unseren Unterschriften an alle führenden Tageszeitungen und anderen Medien von Ljubljana bis Skopje. Sie traf auf ein sehr schwaches Echo. Nur wenige veröffentlichten unser Schreiben, es wurde von einigen Seiten angegriffen, die Mehrheit winkte lediglich ab: Was glauben bloß diese Künstler, wer sie sind? Es interessierte niemanden, die Menschen wandten sich dem Leben auf ihren eigenen Inseln zu. Dieses Leben spielte sich bereits während des wilden Wettkampfs um die Aneignung von Geld und Macht auf jeder Insel einzeln ab und damit das gegenseitige politische Gemetzel im Inneren, so in etwa, was die Deutschen Selbstzerfleischung nennen.

Bereits zu Beginn des Zerfalls dieses Staates dachte ich darüber nach, dass es trotz der Aversion, die ich gegenüber seinen Parteiapparaten verspürte, kein einfacher Augenblick wäre, wenn ich mich plötzlich nur unter meinen lieben Slowenen wiederfinden würde, auf dem Weg nach Europa, europäische Phrasen plappernd, unter lauter groben Unternehmern und sanfteren Sängern, zwischen verwandtem Allwissen und einhergehender Scharfzüngigkeit, Missgunst, Schadenfreude. Ein Schriftsteller kennt eben seine Umgebung und deren Schwächen. Aber das war nur ein Teil des Problems; was uns erwartete, war eine noch viel größere Überraschung. Zumindest für uns, die wir dachten, die Demokratie sei ein magisches Mittel gegen alle Arten von gesellschaftlichen Problemen. 

Ich weiß nicht, was genau wir uns vorgestellt hatten. Gewiss eine parlamentarische Ordnung, Presse- und Redefreiheit, wirtschaftlichen Aufschwung. Ehe wir uns wirklich bewusst waren, was vor sich ging, traten wir in eine Ära ein, die wir, die sich für die Demokratie stark machten, überhaupt nicht verstanden. Irgendwann schrieb ich: Wir träumten von Demokratie und erwachten im Kapitalismus. Und in was für einem! Nicht in einem gewöhnlichen Kapitalismus. Man nannte es Transformationskapitalismus. Einem recht wilden, der viele Menschen verarmt, vereinsamt, verloren zurückließ. Nicht nur in Slowenien und anderen Ländern Ex-Jugoslawiens, sondern in ganz Osteuropa. Das Gesamtvermögen bzw. das „gesellschaftliche“ Vermögen musste Besitzer bekommen, die „Privatisierung“ nahm ihren Lauf, ein Prozess, für den man in Russland den Begriff „prichvatizacija“ erfand.

Nicht nur in Slowenien, in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, sondern auch anderswo in Osteuropa dachten wir Menschen der Feder und Bücher nicht viel darüber nach, dass der Kapitalismus seinem eigenen Regelwerk zugrunde liegt, dass Kapitaleigentümer die Politik, Medien, ja das gesamte gesellschaftliche, ja sogar kulturelle Leben beeinflussen können. Und dass die Demokratie eine so zerbrechliche Gesellschaftsform ist – es findet sich immer jemand, der sich so viel wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Raum wie möglich aneignen will. Natürlich – damit keine Missverständnisse aufkommen – denke ich noch immer – mit Churchill gesagt: Die Demokratie mag die schlechteste aller Staatsformen sein, aber es gibt keine bessere. Das Leben in der schönen neuen Welt war aber auch nicht gerade leicht zu verstehen. 

Ehe wir uns wirklich bewusst waren, was vor sich ging, traten wir in eine Ära ein, die wir, die sich für die Demokratie stark machten, überhaupt nicht verstanden. Irgendwann schrieb ich: Wir träumten von Demokratie und erwachten im Kapitalismus. Und in was für einem! Nicht in einem gewöhnlichen Kapitalismus. Man nannte es Transformationskapitalismus. Einem recht wilden, der viele Menschen verarmt, vereinsamt, verloren zurückließ.

Plötzlich lebten wir in einer völlig anderen Welt, es tauchten Menschen des Typs Nouveau Riche auf, die mit semikriminellen Privatisierungen reich geworden waren, die sozialen Unterschiede wurden größer, politische Kämpfe wurden auf brutale Weise demagogisch. Das demokratische Leben hatte nicht nur die Freiheit der Meinungsäußerung gebracht, sondern auch die Freiheit, Bösartigkeit, Wut und Neid zu äußern. Ein Teil davon entfällt auf den sogenannten Nationalcharakter, dem Merkmal aller kleinen Nationen, wo sich die Menschen lieber mit sich selbst beschäftigen als mit der großen Welt um sich herum. Dem gesellte sich ein wildes materialistisches Rennen der sogenannten Transformationszeit hinzu, es tauchten grobe und auch eher so raffinierte Tycoons auf, es entstand eine Schicht von verarmten Leuten, die sich kaum selbst durchbringen konnten. Die politische Demagogie aller Farben nützte Hand in Hand mit den Medien das kaum vergangene Kriegsleid und die nicht verheilten Wunden für eine rohe Abrechnung und Festigung der neuen Machthaber auf jeder einzelnen Insel aus. 

Die Ankunft des Internets und damit der Diskussionen und Weisheiten in den sogenannten „Foren“ stellte dieses demagogische Chaos und jegliche Intoleranz bis auf den Grund bloß, es wurde zu einem großen Triumph dummer Besserwisser, oft auch brutaler Leute, die bereit sind – nicht nur mit Worten –, so manches anzurichten. 

Ich hatte in den Neunzigerjahren und Anfang des neuen Jahrhunderts mit publizistischen Texten viel Energie darauf verwendet, diese Prozesse sowie die neue, intolerante gesellschaftliche Atmosphäre zu kritisieren. Bis ich erkannte, dass die Windmühlen real sind, äußerst stark, und dass sie mich jeden Augenblick auf den Boden knallen lassen würden. Ich trat aus dieser gesellschaftlichen Geschichte aus und widmete mich ausschließlich der Literatur. 

Was ist mir geblieben? Und uns allen zusammen?

Aus der Vergangenheit die Erinnerungen an ein gemeinsames Leben, in der Zukunft die europäische Utopie. Für uns, die wir in Jugoslawien gelebt haben, nebst dieser Utopie auch die Angst, dass sich für Europa das Schicksal der jugoslawischen Föderation wiederholen könnte. Nach all den schmerzhaften Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts war dieses Bündnis für alle Nationen Europas das Beste, das uns auf diesem Kontinent – gemartert von all den Kriegen und nationalen sowie ideologischen Konflikten – passieren konnte. Nun, derzeit scheint es, als stünde Europa erneut vor einer Krisenphase. Ich werde oft gefragt, ob ich denke, dass die Grenzen wieder geschlossen würden, ob Europa vor dem Zerfall stehe? Ob der EU widerfahren könne, was mit Jugoslawien passiert sei?

Aus der Vergangenheit die Erinnerungen an ein gemeinsames Leben, in der Zukunft die europäische Utopie. Für uns, die wir in Jugoslawien gelebt haben, nebst dieser Utopie auch die Angst, dass sich für Europa das Schicksal der jugoslawischen Föderation wiederholen könnte.

Ich denke, dass dieser Vergleich hinkt, dass es in Europa gerade auf Grund der Werte wie Menschenrechte, Recht auf freie Meinungsäußerung, offene Grenzen und allem anderen möglich ist zu reden. In Jugoslawien war das zu einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr möglich. Und trotz dieses unseligen Corona-Virus, der zeitweisen wirtschaftlichen Rezessionen, trotz des radikalislamischen Terrorismus und trotz der sogenannten Migrationskrise werden sich die Menschen in Europa nie wieder die offenen Grenzen, die Freiheiten des Menschen und die Demokratie nehmen lassen. 

Wenn ich an das heutige Europa denke, denke ich auch oft an mein Leben in Jugoslawien und an das Leben des jugoslawischen Archipels nach dem Jahr 1991. Diese Zeilen schreibe ich zur Zeit der Quarantäne, die Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt, jeden Tag werden wir von den Fernsehbildschirmen über die Zahl der Neuinfizierten und an dieser unseligen COVID-19-Krankheit Verstorbenen informiert. Wir leben in Ungewissheit, wir blicken mit Angst in die Zukunft, manchmal scheint mir, als seien wir am Ende aller Utopien angelangt, als hätten wir das Zeitalter einer Dystopie angetreten.

Vielleicht hat diese mit dem Fall aller Utopien des 20. Jahrhunderts begonnen. An was alles die Menschen geglaubt haben! An die soziale Utopie, an die Größe der eigenen Nation, an den Sieg unseres Glaubens über ihren ... auch an die jugoslawische Utopie. Und waren bereit, dafür ihre Leben zu opfern, ihre eigenen, meistens aber andere. Zumindest „Europa“ mit seinem Pragmatismus und den hohen Werten der Menschenrechte ist uns als eine etwas bescheidenere Sache geblieben, eine kleine, teils nicht realisierte Utopie, an die wir glauben können, zumindest ich glaube daran. 

Ein Schriftsteller steht hier abseits, er ist schon lange keine moralische Autorität mehr, kein Tolstoi oder Camus weit und breit, vor allem nicht in Zeiten des Internets, in denen jeder alles weiß und jeder auch alles sagen kann. 

Also stehe ich im Abseits, beobachte das Leben, schreibe darüber, sei es in historischer oder der heutigen Zeit. 

Hier, am Ende einer dreißigjährigen Reise aus Jugoslawien in eine neue, andere Welt, in einem ungewissen Augenblick in Europa und der Welt, zwischen Quarantänen, Ausgangsbeschränkungen, zwischen Menschen mit Masken in ihren Gesichtern, warte ich: nicht mehr auf etwas Neues – weil ich mich davor ein wenig fürchte –, sondern auf eine Rückkehr ins normale Leben. In diesen dreißig Jahren habe ich von meiner slowenischen Insel eigentlich sehr oft die vielen anderen Inseln des jugoslawischen Archipels bereist, hauptsächlich zu Präsentationen meiner Bücher, die auf all diesen Inseln erschienen sind. Ich habe aufgehört, mich mit politischen Stürmen zu beschäftigen, die noch immer zwischen ihnen und auch auf jeder einzelnen von ihnen herrschen. 

Unlängst saß ich in Belgrad in einem Café mit einem jüngeren Freund, dem Dichter und Verleger Gojko Božović, der in seinem Verlag meinen letzten Roman herausbrachte. Über Politik sprachen wir nahezu gar nicht. Die Abstände zwischen den Inseln haben sich so vergrößert, dass es mit der Erfahrung von einer schwer ist nachzuvollziehen, was auf einer anderen geschieht. Wir sprachen aber viel von der Vielfalt und der künstlerischen Kraft literarischer Werke, die wir beide gelesen hatten. Gojkos Verlag heißt Arhipelag. Ich habe keinen Zweifel daran, dass er ihn so benannt hat, weil seine Publikationen einen Reichtum an literarischer Kunstfertigkeit, eine interessante Vielfalt an Poetiken, verschiedenste Lebenserfahrungen, eine Weite phantastischer Landschaften bringen.

Das ist jener literarische Archipel, auf dem ich nun auch selbst lebe. In einer Zeit, wo man kaum noch – mit einem Mund-Nasen-Schutz im Gesicht – zum nächsten Supermarkt gehen kann, ermöglicht er mir, dass ich weit und hoch reisen kann, manchmal auch in die Vergangenheit, sogar in meine Jugendzeit, als wir noch nebeneinander gelebt hatten, bis wir – wie jene, die sich auf Saramagos steinernem Floß wiederfanden – auf unserer jeweils eigenen Insel fortgetragen wurden. 


Dieser Artikel ist Teil des Projekts Archipel Jugoslawien von Traduki. Er wird in Zusammenarbeit mit der S. Fischer Stiftung veröffentlicht.


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