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Spanien, Tschechien, Dänemark, Belgien – die Mekkas des Reproduktionstourismus

Assistierte Reproduktion ist in vielen europäischen Ländern mit zahlreichen Hürden verbunden. Tausende von Betroffenen versuchen ihr Glück daher im Ausland und nehmen oft hohe Kredite auf, um die Behandlungen zu finanzieren.

Veröffentlicht am 22 November 2021 um 16:47

Fast ein Jahrzehnt haben Marie und ihr Partner versucht, ein Kind zu bekommen. Doch es wollte nicht klappen. Die beiden steckten in einer Sackgasse.  "Wir haben in Frankreich eine [Gametenspende] gemacht, die nicht funktioniert hat", erinnert sich Marie. Gleichzeitig sahen sie sich mit einem weiteren Problem konfrontiert: Die Wartelisten für die assistierte Reproduktion waren zwei Jahre lang. "Und wenn es nicht klappt, muss man noch einmal zwei Jahre warten". Die Verzögerungen ließen sie das Schlimmste befürchten: das Überschreiten der Altersgrenze von 45 Jahren, ab der Frauen in Frankreich kein Recht auf ART mehr haben. "Wer es sich finanziell leisten kann, geht in ein anderes europäisches Land, in dem es die gleichen Verfahren der künstlichen Befruchtung gibt, nur schneller", erklärt Marie.       

Sie und ihr Partner reisten schließlich nach Spanien und waren kein Einzelfall. Erika aus Ungarn, die wie Marie in dieser Geschichte auf ihren Wunsch ein Pseudonym verwendet und seit 2017 versucht, mit ihrem Partner ein Kind zu bekommen, sucht ebenfalls nach Möglichkeiten für eine Eizellenspende. Prinzipiell erlaubt, verlangt die Regierung in Ungarn jedoch, dass die Spenderin aus der eigenen Familie kommt. "Ich habe dafür aber niemanden in meiner Familie", sagt Erika. Dies war der Hauptgrund für ihre Entscheidung, es in der Slowakei zu versuchen, aber auch die Überlastung und Entmenschlichung des ungarischen Gesundheitssystems haben dazu beigetragen. “Uns geht es in erster Linie darum, wie Menschen behandelt zu werden und nicht wie Versuchskaninchen am Fließband. Man hat noch nicht einmal seine Hose wieder angezogen, da ist der Arzt schon beim nächsten Patienten."

Einer kürzlich durchgeführten Studie zufolge sind etwa 5 % der europäischen Fruchtbarkeitsbehandlungen mit grenzüberschreitenden Reisen verbunden. Die häufigsten europäischen Reiseziele sind dabei Spanien, Tschechien, Dänemark und Belgien. 2019 führten spanische Fruchtbarkeitskliniken beispielsweise 18 457 Behandlungen für Menschen aus dem Ausland durch, die meisten davon kamen aus Frankreich und Italien. In Dänemark waren es über 8 000 Behandlungen für ausländische Patienten, fast 22 % der Gesamtbehandlungen. In Belgien wurden 2018 13 von hundert In-vitro-Behandlungen für Patienten durchgeführt, die nicht aus Belgien kommen sondern hauptsächlich in anderen EU-Mitgliedstaaten leben. Im Gegensatz dazu zählte das litauische Gesundheitsministerium zwischen 2018 und 2020 nur zehn ausländische Patienten, vor allem aus Russland und Weißrussland, die eine künstliche Befruchtung in Anspruch nahmen.

Warum reisen so viele Betroffene ins Ausland für eine künstliche Befruchtung? 

Die von Civio befragten Personen sind nur ein kleiner Teil von ihnen - etwa acht Millionen Babys wurden dank dieser Techniken geboren -, aber sie alle sahen sich aus dem einen oder anderen Grund gezwungen, sich außerhalb ihres Heimatlandes künstlich befruchten zu lassen. Der häufigste Grund sind die in ihren Heimatländern geltenden gesetzlichen Beschränkungen. So verbietet die Hälfte der europäischen Länder lesbischen Paaren den Zugang zu ART, und fast ein Drittel dehnt das Verbot auf ledige Frauen aus. Hinzu kommen weitere Hindernisse, wie Altersgrenzen oder die Anzahl der von der Krankenkasse übernommenen Versuche. Andere Gründe sind lange Wartelisten wie in Frankreich, das Bedürfnis nach einer besseren oder billigeren Behandlung und manchmal auch der Wunsch nach anonymen Spenden.

In Ländern wie Ungarn, wo LGBTQI+-Paaren die Inanspruchnahme von ART untersagt ist, werben ausländische Fruchtbarkeitskliniken für ihre Dienste. "In der Tschechischen Republik, in der Ukraine und später auch in Österreich fingen Kliniken an, auf Ungarisch zu werben und ihre Dienstleistungen zum gleichen oder ähnlichen Preis wie in ungarischen Privatkliniken anzubieten", erklärt Bea Sandor, Sprecherin der Háttér-Gesellschaft. Für Marie und ihren Partner gibt es in Spanien kein Sprachproblem: "Ich spreche kein Spanisch, aber das ist kein Problem, weil in den Kliniken, die sich um französische Patienten kümmern, Französisch gesprochen wird". Laut der Gynäkologin Marisa López Teijón, Leiterin der Fruchtbarkeitsklinik des Institut Marquès, kommen ihre Patienten "aus über 50 Ländern". Zudem eröffnen renommierte Kliniken immer mehr Standorte im Ausland. 

Wer für künstliche Befruchtung ins Ausland reist, wählt seinen Aufenthaltsort nach seinen persönlichen Bedürfnissen aus. So ging es auch Marie: "Ich wohne in Toulouse. Das ist nur drei Stunden von Barcelona entfernt", sagt sie. Sowohl Spanien als auch die Tschechische Republik sind häufige Ziele für Menschen mit Fruchtbarkeitsproblemen, die wie in ihrem Fall eine Eizellenspende benötigen. Die Zahlen sind überwältigend: 54,3 % der Behandlungen, die 2019 in Spanien bei ausländischen Patientinnen begonnen wurden, waren Eizellspenden. In Tschechien waren 2017 99,7 % der Eizellenspenderinnen Einheimische, während die Empfängerinnen meist aus dem Ausland kamen (86,3 %).

Im Gegensatz dazu ist Dänemark für seine zahlreichen Samenspender bekannt. Nach Angaben der dänischen Gesundheits- und Arzneimittelbehörde waren 55,5 % der Spenderinseminationen dort für ausländische Empfänger bestimmt. "Dänemark ist ein relativ offenes Land, wenn es um die Gesetzgebung für Samenspender geht", sagt Lasse Ribergård Rasmussen, Sprecher von Cryos International, eine der bekanntesten Samenbanken. Von ihrem Hauptsitz in Kopenhagen aus - zusammen mit Zentren auf Zypern und in den Vereinigten Staaten - verschickt sie Proben in 100 Länder weltweit. "Lange Wartelisten und rechtliche Aspekte in den jeweiligen Herkunftsländern unserer Kunden sind Faktoren, die ihre Entscheidung beeinflussen können", sagt Rasmussen.

Obwohl die Gründe für die Reisen ins Ausland unterschiedlich sind, gibt es doch Gemeinsamkeiten. Eine lockere Gesetzgebung und hohe Erfolgsquoten scheinen viele Menschen zu ermutigen. "Spaniens Gesetzgebung ist zwar schon älter, aber sehr offen. Die Kliniken sind bestens organisiert, haben gute Ergebnisse vorzuweisen und die Behandlungsabläufe sind flüssig", erklärt González Foruria, Gynäkologe bei Dexeus Mujer. "Spanien ist sowohl bei der Zahl der Eizellspenden als auch bei der Anzahl der vorhandenen Kliniken führend in Europa", sagt Juana Crespo, Gründerin der gleichnamigen Fruchtbarkeitsklinik.

Im Falle Tschechiens sieht die Situation laut dem Institut für Gesundheitsinformation und Statistik ähnlich aus. Auch dort gibt es eine relativ lockere Gesetzgebung, viele anonyme Spenderinnen und eine hohe Behandlungsqualität. "Tschechien ist ein beliebtes Ziel für IVF-Behandlungen, weil die Erfolgsquoten hoch sind und die Behandlungen zu erschwinglichen Preisen angeboten werden", sagt Michaela Silhava, Direktorin der Unica-Klinik in Prag. Die meisten ihrer Patientinnen kommen nach Tschechien wegen der strengen gesetzlichen Beschränkungen in ihrer Heimat, wie es der Fall in Italien, Deutschland und Österreich ist, oder wegen langer Wartelisten, wie im Vereinigten Königreich.

Die tschechischen Gesundheitsbehörden befürchten jedoch, dass die vielen ausländischen Patienten den Zugang zur assistierten Reproduktion für Einheimische erschweren könnten. Dies geht aus dem 2017 veröffentlichten Bericht des Instituts für Gesundheitsinformation und Statistik hervor, in dem ausdrücklich vor diesem Risiko gewarnt wird. Fruchtbarkeitsspezialisten in Spanien dagegen schließen dieses Problem aus, da Eizellspenden auch von ihren Landsleuten häufig genutzt werden und ein Wettbewerb zwischen den Privatkliniken herrscht. Für Tschechien liegen Civio darüber bisher keine Informationen vor. 

Wie sieht die Zukunft aus?

Eine entscheidende Frage ist, ob es in Zukunft weniger Diskriminierung geben wird. Nicht nur, wenn es um das Recht auf künstliche Befruchtung geht, sondern auch um den gesellschaftlichen Umgang damit. Noch immer ist das ein Problem, wie die Turiner Stadträtin Chiara Foglietta und ihre Ehefrau Michaela Ghisleni es erlebt haben, nachdem sie für eine künstliche Befruchtung in Dänemark waren. Im April 2018 kam ihr Sohn auf die Welt, wie Foglietta auf Facebook schrieb. Doch bei der Eintragung ins Geburtenregister forderte das Standesamt Foglietta auf, anzugeben, sie habe mit einem Mann geschlafen. "Es gibt keinen offiziellen Begriff dafür, dass man eine medizinisch unterstützte Fortpflanzung durchgeführt hat", beklagte sie in ihrem Post.

Obwohl es den beiden Frauen schließlich gelang, das Baby als das erste registrierte Kind zweier Mütter in Italien eintragen zu lassen, ist ihre Erfahrung nicht ungewöhnlich. Auch in Irland können lesbische Paare nach einer künstlichen Befruchtung im Ausland ihr Baby nicht als Kind zweier Mütter eintragen lassen. In Ungarn, wo lesbische Paare keinen Zugang zu künstlicher Befruchtung oder In-vitro-Fertilisation haben, sind ähnliche Probleme an der Tagesordnung. "Bei der Registrierung nach der Geburt werden die Mütter gefragt, ob es einen Vater gibt. Und wenn es keinen gibt, dann müssen sie etwas über die Herkunft des Kindes erfinden", erklärt Sandor. Manche versuchen, Unterlagen vorzulegen, um zu beweisen, dass das Kind das Ergebnis einer künstlichen Befruchtung ist, während andere behaupten, es sei ein One-Night-Stand gewesen, oder dass sie die Eltern nicht kennen. "Die Leute haben Angst, vor einem Notar lügen zu müssen. Das ist schrecklich", sagt sie.

Auch der “Reproduktionstourismus” könnte in Zukunft weniger werden. Irene Cuevas, von der Spanischen Fruchtbarkeitsgesellschaft, weist darauf hin, dass viele Frauen für eine künstliche Befruchtung nach Spanien, insbesondere nach Katalonien und ins Baskenland kommen, "weil es in ihren Herkunftsländern illegal war". Jüngste Gesetzesänderung wie in Frankreich zum Beispiel, wo jetzt allen Frauen, unabhängig von ihrem Familienstand oder ihrer sexuellen Orientierung Zugang zur ART gewährt ist, werden dazu führen, dass die Betroffenen in ihren Ländern bleiben. "Es werden in Spanien vor allem die Samenspenden für ausländische Patientinnen abnehmen”, meint Cuevas. Genau wie in Belgien, einem weiteren Zielland für Patienten aus Frankreich. Eine gute Entwicklung, da eine solche Behandlung im eigenen Land weniger stressig und billiger ist, wie die französische Aktivistin Magali Champetier, die mit ihrem Partner noch nach Spanien gehen musste, um ein Kind zu bekommen, kürzlich in der Zeitschrift Komitid erklärte. 

Übersetzt mit der Unterstützung der European Cultural Foun
👉 Originalartikel auf CIVIO
In Partnerschaft mit der European Data Journalism Network

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