Analyse Covid19 und die Grundrechte

Warum der Lockdown gerechtfertigt war – Habermas’ Argumentation

Jürgen Habermas hat vor Kurzem den Standpunkt vertreten, dass die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung zu zurückhaltend gewesen seien. Er machte darauf aufmerksam, dass es verfassungswidrig sei, die Verteidigung des Rechtes auf Leben gegenüber anderen Grundrechten und -freiheiten abzuwägen. In der darauffolgenden Debatte warfen ihm die Kritiker Autoritarismus vor. Was ist dran an dieser Kritik?

Veröffentlicht am 26 März 2022 um 10:52

Der in der Septemberausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik erschienene Artikel von Jürgen Habermas ist ein aktuelles Beispiel für seine Fähigkeit, „einen gewaltigen Wirbel“ in der deutschen Öffentlichkeit zu erzeugen, wie sein erster Herausgeber es einmal beschrieb. (1)

In seinem Text Corona und der Schutz des Lebens verteidigte Habermas nicht nur die Legitimität der Grundrechtseinschränkungen, wie das Recht auf Freizügigkeit und die Versammlungsfreiheit, als Mittel der Pandemiebekämpfung, sondern brachte auch an, dass die Regierung nicht weit genug ging, um die Bevölkerung zu schützen. Indem sie die Belegung der Intensivbetten zur Grundlage ihrer Entscheidungen machte, und nicht das Risiko von Neuinfektionen, hat die Regierung ihre in der Verfassung festgelegte Pflicht vernachlässigt, „alle Strategien auszuschließen, bei denen er Gefahr läuft, die wahrscheinliche Gefährdung von Leben und körperlicher Unversehrtheit einer vorhersehbaren Anzahl unschuldiger Bürger in Kauf zu nehmen.“

Aus Habermas’ Sicht ist das Verbot, individuelles menschliches Leben einem anderen Zweck unterzuordnen, der allerhöchste Wert nicht nur in der demokratischen politischen Kultur Deutschlands seit dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch des Grundgesetzes selbst. Demnach ist die Ansicht, dass Menschenleben in irgendeiner Form mit anderen Grundrechten aufgewogen werden könnten, wie einige deutsche Juristen kürzlich verlautet hatten, nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch gesetzeswidrig.

Obwohl Habermas seine Argumentation zunächst allgemein auf den demokratischen Verfassungsstaat bezieht, zeigen seine folgenden Ausführungen, dass sie hauptsächlich auf den rechtsphilosophischen Diskurs in Deutschland abzielt (wie so viele seiner öffentlichen Äußerungen).

Selbst in Deutschland waren die Reaktionen eher gedämpft im Vergleich zu früheren Anlässen. Dies sagt wohl einiges aus, zum einen über den mehr oder weniger vorhandenen „Appetit“ der Allgemeinheit auf eine ernsthafte Diskussion der Pandemiemaßnahmen und zum anderen über die Polarisierung der Debatten, wenn sie stattfinden. Anstatt sich objektiv mit Habermas’ Argumentation zu beschäftigen, gingen die Antworten in jene polemische Richtung, mit der wir nach zwei Jahren Pandemie allzu vertraut sind.

In einem Kommentar mit dem Titel „Die Habermas-Diktatur“, veröffentlicht am 11. Oktober in der konservativen Tageszeitung Die Welt, klagt deren Feuilleton-Ressortleiter Andreas Rosenfelder Habermas an, einen „biopolitischen Leviathan zu erschaffen, der im Namen des Infektionsschutzes jegliche Freiheit einschränken kann - jederzeit und überall, ohne Bedingungen oder Grenzen.“ Rosenfelder widerspricht Habermas’ Beschreibung der Lockdown-Kritiker als „Libertäre“, die sich schon aus Prinzip der staatlichen Autorität entgegensetzten. Dies implizierte ihm zufolge, die Regierung und die Befürworter ihrer „strengen“ Maßnahmen würden nur eine rechtliche Norm „verteidigen“ und nicht etwa „auf die Schnelle eine Methode aus China übernehmen.“

Rosenfelders harsche Kritik und deren Resonanz in den sozialen Medien spiegeln die Unzufriedenheit mit der „medialen Technokratie“ wider, die sich im Laufe der Pandemie in Teilen der deutschen Gesellschaft entwickelt hat. Wilde Behauptungen wie jene, dass Lockdowns „von China abgeschaut“ seien (wenn, dann stammen sie von den Quarantäneregeln und Quarantänegebieten, die während der Beulenpest die Bewegungsfreiheit der Menschen einschränkte) sind in diesem Diskurs zu erwarten. Doch zugegeben, Rosenfelder hatte Recht damit, dass Habermas der Regierung eine beachtliche Autorität über die Grundrechtsbeschränkungen zuspricht.

Während Habermas’ Priorisierung des Lebensschutzes in bestimmter Hinsicht extrem ist, waren seine Vorschläge weder besonders radikal noch potenziell autoritär. Des weiteren ist sich Habermas trotz seines Eintretens für die „natürliche Kraft des besseren Arguments“ bewusst, dass die Philosophie im heutigen modernen Leben keine eminente Position einnimmt. (2) Wenn Intellektuelle …

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