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Aufnahme von Flüchtenden aus der Ukraine durch das europäische Asylsystem: Nur was uns herausfordert kann etwas verändern

Für Flüchtende aus der Ukraine gilt jetzt ein spezielles, besonders schnelles Schutzsystem, während sich in den regulären Ankunftszentren Hunderttausende Anträge stapeln, von denen viele abgelehnt werden.

Veröffentlicht am 13 April 2022 um 11:49

Von einem „hoffnungslosen Scheitern“ des europäischen Aufnahmesystems für Asylsuchende spricht Virginia Álvarez, Sprecherin von Amnesty International in Spanien und Immigrationsexpertin. Dieses System bereitet sich jetzt auf die Aufnahme mehrerer Millionen Flüchtender aus der Ukraine vor. Das Scheitern lässt sich mit Zahlen belegen: Ende 2021 warteten in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) mehr als 761.000 Asylanträge auf Bearbeitung – eine unglaublich hohe Zahl. Wenn man weiß, dass im Dezember insgesamt knapp über 60.000 Anträge gestellt wurden, ist das ein beträchtlicher Rückstand. Diese 761.000 zu bearbeitenden Anträge entsprechen der Zahl der Antragstellungen in den letzten 15 Monaten. Dasselbe Asylsystem muss sich jetzt um einen großen Teil der etwa 4 Millionen Flüchtenden kümmern, die den Daten der Vereinten Nationen zufolge seit der russischen Invasion im Februar 2022 die Ukraine verlassen haben.

„Kein europäisches Land hat jemals die geringste politische Entschlossenheit gezeigt, seinen internationalen Verpflichtungen Flüchtenden gegenüber nachzukommen,“ sagt Álvarez. Bei den schlechten Praktiken gibt es allerdings Unterschiede. Mehr als 500.000 der 761.060 zum 31. Dezember 2021 unbearbeiteten Asylanträge verteilten sich auf nur drei Länder: Deutschland (über 264.000), Frankreich (über 145.000) und Spanien (über 100.000). Es handelt sich auch um die Länder, in denen die meisten Anträge gestellt werden. Der dort verzeichnete Rückstand ist in Monaten gemessen ebenso enorm: im Durchschnitt bleiben in Deutschland die Anträge von mehr als 19 Monaten zu bearbeiten, in Spanien sind es mehr als 17 und in Frankreich fast 15 Monate.

In Irland beträgt die durchschnittliche Bearbeitungsfrist mehr als 29 Monate, und auch in Zypern, Malta und Finnland sind die Rückstände wesentlich größer. Griechenland, Luxemburg, Belgien und Schweden können kürzere Fristen vorweisen, die aber trotzdem noch länger sind als ein Jahr.

„Es gab nur sehr wenige [Beamte], die sich um so viele von uns kümmern mussten,“ sagt Carmen Caraballo, die aus Venezuela geflüchtet ist und 2018 in Spanien eintraf. Ihr Asylantrag wurde erst eineinhalb Jahre später genehmigt. Der Personalmangel erklärt, warum die Flüchtenden so lange auf einen Termin oder die Bearbeitung ihres Antrags warten müssen, sagt Caraballo und erzählt: „Wir mussten lange Schlange stehen, wie für Lebensmittel, nur dass es diesmal um Papiere ging.“ Sie wurde in das spanische System aufgenommen, aber dieses Glück hat nicht jeder: viele Asylsuchende arbeiten schwarz, um zu überleben, während sie auf die „rote Karte“ warten, wie die Arbeitsgenehmigung genannt wird.


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Die Farben Rot und Schwarz sind für die aus Nicaragua geflüchtete Georgina Molina mit bittersüßen Erinnerungen verbunden, denn sie stehen für die lange erwartete spanische Arbeitsgenehmigung, aber auch für das Sandinisten-Regime, vor dem sie floh. Sie verließ Nicaragua, nachdem sie von der Polizei gefoltert worden war. „Das war so entsetzlich, dass ich es mit Sicherheit nie vergessen werde,“ sagt sie. Aufgrund der Behandlung, die ihr und zwei Begleitern in ihrem Land widerfuhr, fällt es ihr immer noch schwer, beim Anblick von Beamten ihre Fassung nicht zu verlieren. Als ihr ein spanischer Polizist in Zivil ihre Asylunterlagen übergab, brach sie in Tränen aus. „Das Asylverfahren war die reinste Odyssee. Ich hatte das Gefühl, nicht einmal mehr eine Person zu sein. Man fühlt sich wie Ungeziefer, wie Abschaum, wie eine Ratte,“ so Molina. Nach drei langen, schwierigen Jahren wurde ihr Asylantrag im Februar 2022 genehmigt.

Heute ist sie davon überzeugt, dass Spanien viele Aspekte des Asylverfahrens verbessern könnte, zum Beispiel die „mangelnde Schulung in Bezug auf Menschenrechte“ und ein „Mindestmaß an Menschlichkeit“ derjenigen, die Personen helfen, die als Asylsuchende ohnehin verwundbar sind. Caraballo, die venezolanische Geflüchtete, sagt: „Die Polizisten bei den Warteschlangen verhalten sich nicht respektvoll, sie schreien. Die Zivilbeamten in den Büros sind achtsamer. Wahrscheinlich haben sie schon unglaublich viele Geschichten gehört.“

Caraballo berichtet mit zitternder Stimme, dass sie mitbekam, wie die Person, mit der sie im Rahmen ihres Antragsverfahrens das zweite Gespräch führte, murmelte: „Und noch eine“. Das habe ihr den Rest gegeben. „Ich möchte nicht hier sitzen. Ich wünsche mir nichts mehr, als zu Hause zu sein, am anderen Ende der Welt, zu arbeiten und meine Familie um mich zu haben.“ Viele Menschen versuchen angesichts dieser Odyssee mit allen Mitteln, einen Termin zu bekommen – manche bezahlen sogar rund 80 Euro dafür. Das ist eine ganz andere Situation als die, die jetzt organisiert wird, um die Flüchtenden aus der Ukraine aufzunehmen.

Ein besonderes, beispielloses System

Wer vor dem Krieg in der Ukraine flieht, kann unter dem Schutz eines besonderen Systems in die EU einreisen, das am 4. März durch einen Durchführungsbeschluss aktiviert wurde. Dieser Mechanismus, der Gegenstand einer Richtlinie aus dem Jahr 2001 ist, bisher aber noch nie von der EU aktiviert wurde, gewährt ukrainischen Staatsangehörigen und Drittstaatsangehörigen bzw. Staatenlosen, die sich vor dem 24. Februar in der Ukraine aufhielten, quasi automatisch Asyl. Die Mitgliedstaaten können den Beschluss auch auf andere betroffene Personen anwenden. Die Flüchtenden erhalten dank des Mechanismus im Rahmen eines minimalen, vereinfachten Verfahrens Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen, Unterkunft und Zugang zu Bildung für Minderjährige.


Von 2008 bis Ende 2020 beantragten rund 67.110 Ukrainer*innen in der Europäischen Union Asyl, aber nur 18,7 % erhielten eine positive


In Spanien wird im Rahmen des vorübergehenden Schutzes beispielsweise per Gesetz garantiert, dass die Flüchtenden innerhalb von 24 Stunden nach Antragstellung Asylpapiere erhalten. Das Problem ist, dass das bereits überlastete Empfangssystem echte Warteschlangen nur zu virtuellen Wartschlangen für einen Termin zur Stellung eines Asylantrags macht.

Dank dieses besonderen, beschleunigten Verfahrens können auf jeden Fall zwei traditionelle Probleme im Zusammenhang mit Asylanträgen vermieden werden: die Wartezeiten, die im normalen System mehrere Monate erreichen können, und der geringe Anteil genehmigter Anträge. „Wir erleben zum ersten Mal das, was Menschenrechtsorganisationen schon seit Jahren fordern,” sagt Amnesty International-Sprecherin Álvarez, denn „Europa hat sich immer wie eine Festung verhalten.“ Sie vergleicht diesen besonderen Schutz mit der Behandlung anderer Geflüchteter, z. B. Syrer, oder in der jüngsten Zeit Afghanen an der Grenze zwischen Belarus und Polen. „Flüchtende aus Mali mussten auf den Kanarischen Inseln acht Monate lang darauf warten, überhaupt ihren Asylantrag stellen zu können,“ gibt sie zu bedenken.

Álvarez fügt hinzu: „Es ist erfreulich, zu sehen, dass sich dank dieser Herausforderung etwas verändert.“ Das Sondersystem wird auch Auswirkungen auf alle ausstehenden Anträge haben. „Natürlich wird es einen Einfluss haben,“ so Álvarez.

Molina, die Geflüchtete aus Nicaragua, begrüßt dieses System ebenfalls: „Was für die Flüchtenden aus der Ukraine getan wird – und einiges mehr, das für sie getan werden sollte – müsste auf alle Geflüchteten ausgeweitet werden.” Álvarez muss dabei an die Unterschiede denken und macht die geografische Nähe und die Hautfarbe verantwortlich: „Es ist leichter, einer anderen weißen Person gegenüber Empathie zu zeigen als einer Person aus dem Südkegel. Ich bin davon überzeugt, dass es institutionellen und sozialen Rassismus gibt.“ Caraballo, die venezolanische Geflüchtete, äußert sich folgendermaßen: „Es war nötig, dass Europa im Fall der Ukraine schnell reagierte, denn dort werden Menschen getötet.“ Sie ist davon überzeugt, dass es nützlich sein kann, die vor der russischen Invasion Flüchtenden schnell aufzunehmen, „denn wenn man in der Lage ist, das Verfahren für ukrainische Flüchtende zu beschleunigen, kann man alles beschleunigen. Das wäre ideal.“

Abgesehen von der Staatsangehörigkeit der Antragsteller gibt es nämlich auch große Unterschiede zwischen den aufnehmenden Ländern: Von 2008 bis Ende 2020 beantragten rund 67.110 Ukrainer*innen in der Europäischen Union Asyl, aber nur 18,7 % erhielten eine positive Antwort. Am strengsten war das Verfahren in Kroatien, Bulgarien, Luxemburg, Lettland und Slowenien, wo überhaupt keine Anträge befürwortet wurden. Deutschland (6 %) und Spanien (8 %), zwei der Länder, in denen neben Italien die meisten Asylanträge gestellt wurden, zeigten sich den Ukrainer*innen gegenüber auch nicht gerade entgegenkommend. Italien gab dagegen fast 45 % der Anträge statt und wird noch von Malta (58 %), Estland (über 68 %) und Portugal (78 %) übertroffen.

Migrations- und Rechtswissenschaftler David Moya von der Universität Barcelona bezeichnet das vereinfachte System, das innerhalb von nur wenigen Tagen verabschiedet wurde, als „beispiellos“. Er erklärt, dass die europäischen Staaten es bereits während der Invasion der Ukraine im Jahr 2014 in Betracht gezogen, dann aber verworfen hätten. Er merkt darüber hinaus an, dass Polen und Ungarn, die derzeit die meisten ukrainischen Flüchtenden aufnehmen, noch vor nicht allzu langer Zeit eine europäische Quotenregelung für Geflüchtete aus anderen Ländern abgelehnt hatten.

„Sie argumentieren, dass jetzt in Europa Krieg herrscht, was reicht, um eine andere Vorgehensweise als bei den bisher eingetroffenen Geflüchteten zu rechtfertigen,“ sagt Virginie Guiraudon, Forscherin am Centre for European Studies and Comparative Politics der Politikhochschule Sciences Po Paris.

Die knappen Mittel, die zur Verfügung stehen, um die Millionen Flüchtenden aus der Ukraine aufzunehmen, führen auch zu großen Risiken. „Wir mussten feststellen, dass Menschenhandel zum Problem wird. Es sind Menschenhändler aufgetaucht,” sagt Viktória Hováth, Sprecherin der NGO Migration Aid, die laut Kata Moravecz aus Ungarn in Budapest eine Notunterkunft für 300 Menschen eröffnet hat.

Vor diesem Hintergrund sind für Menschen, die vor dem Konflikt fliehen, Familienangehörige oder Unterstützungsnetzwerke wichtig. „Wir wurden von Freunden am Bahnhof abgeholt. Wir konnten uns auf die Hilfe Einheimischer verlassen, aber viele Menschen kennen hier niemanden. Sie sind verloren, und deshalb sind wir hier,” sagt eine junge Frau aus Kyiv in der Ukraine, die anderen Flüchtenden hilft, die Verständigungsprobleme haben und nicht wissen, an wen sie sich wenden können. „Manche Menschen haben Beziehungen, die unentbehrlich sind, aber was sollen die tun, die keine haben?“ fragt Álvarez. In einem der Auffangzentren für ukrainische Flüchtende in Spanien helfen einige Ukrainer*innen freiwillig ihren eigenen Familienmitgliedern.

Sowohl Álvarez als auch Moya sind darüber hinaus davon überzeugt, dass noch weitere Flüchtende aus der Ukraine eintreffen werden. „Wir müssen damit rechnen, dass das mindestens sechs Monate oder ein Jahr dauern wird,“ meint Moya. Diejenigen, die gerade erst geflohen sind, wie die junge Frau aus Kyiv, träumen davon, schnellstmöglich zurückkehren zu können: „Momentan planen wir nichts, wir bleiben hier wie Touristen. Ich bin ziemlich sicher, dass wir nicht zu arbeiten brauchen, weil wir in zwei oder drei Wochen, vielleicht in einem Monat, wieder zurückkönnen.“ Genau dieses Gefühl hatte Carmen Caraballo als sie aus Caracas kam, bis sie ein venezolanischer Bekannter zurechtwies: „Mach dir doch keine Illusionen: Du kannst jetzt nicht mehr zurück.“ Das überlastete System, das nicht nur auf kurze Sicht viele verschiedene Ressourcen benötigt, dürfte es schwierig machen, denjenigen zu helfen, die in Europa Asyl suchen. „Es reicht nicht, ihnen ein Willkommenspaket zu überreichen und sich mit ihnen zu fotografieren,“ so Álvarez.

👉 Originalartikel auf Civio
In Partnerschaft mit der European Data Journalism Network
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