Reportage Klimawandel und Minderheiten
Das Gebiet um Jokkmokk, wo das umstrittene Eisenbergwerk gebaut werden soll. | Foto: ©Marek Kowalczyk

Schwedens grüne Wende nimmt neokoloniale Züge an

Nach der Entscheidung für eine drastische Senkung der CO2-Emissionen ist Schweden darauf angewiesen, große Mengen an erneuerbarem Strom zu erzeugen. Doch in den nördlichen Regionen zerstört der Abbau von Metallerzen für Akkus und Windparks die Lebensgrundlagen der Samen, des letzten indigenen Volkes Europas.

Veröffentlicht am 24 Mai 2022 um 11:35
Das Gebiet um Jokkmokk, wo das umstrittene Eisenbergwerk gebaut werden soll. | Foto: ©Marek Kowalczyk

„Sagen wir es unbeschönigt: sie haben unser Land gestohlen.“ Henrik Blind, ein 43-jähriger samischer Politiker von der Schwedischen Grünen Partei, hat sich an seinem gut gefüllten Montagmorgen eine Stunde Zeit genommen, um über den Neokolonialismus in Sápmi zu sprechen. Das traditionelle Siedlungsgebiet der Samen, des einzigen noch vorhandenen indigenen Volkes Europas, zieht sich von Norwegen über Schweden, Finnland und Russland. 

Seit jeher nutzen die Samen die weitläufigen Gebiete im Norden Fennoskandinaviens für den Fischfang, zum Jagen und die Rentierwirtschaft, die bis heute ein zentrales Element ihrer Identität ausmacht. Mit der Gründung des schwedischen Staates im Mittelalter wurden sie verpflichtet, Steuern auf ihr Landeigentum zu zahlen. Im Jahre 1673 änderte dann ein Dekret der schwedischen Krone die Situation, da es Bauern dazu animierte, sich in dem als unbewohnte Wildnis angesehenen nördlichen Teil des Landes niederzulassen. Seitdem haben die Samen fortschreitend ihre Landrechte verloren.

Henrik Blind. | Foto: ©Marek Kowalczyk

„Politiker nennen Sápmi immer noch vildmark - die Wildnis. Auch im Tourismus wird dieses Wort benutzt. So haben sich die Leute daran gewöhnt, unser Land mit diesem Wort zu bezeichnen und nicht als Kulturlandschaft“, erklärt May-Britt Öhman, Samen-Forscherin am Zentrum für multidisziplinäre Rassismusstudien der Universität Uppsala. „Diese Ansichten sind eine Folge des biologischen Rassismus des frühen 20. Jahrhunderts, der die Samen als zu primitiv darstellte, um das eigene Land zu verwalten. Daher kommt die Vorstellung, das Land solle von jenen genutzt werden, die es am besten bewirtschaften können.“

Diese Vorstellungen existieren bis heute und der Norden wird immer weiter kolonisiert, sagen die Samen und ihre Verbündeten. Die Kolonialisierung erfolge aktuell lediglich unter einer anderen Flagge - nämlich der grünen. „Schwedische und ausländische Unternehmen machen das Gleiche wie die schwedischen Obrigkeiten in der Vergangenheit: sie reißen Land an sich. Zwar im Namen einer grünen Wende, oder einer Energiewende, doch die Denkweise bleibt die gleiche! Der Norden sei wild, dort lebe ja niemand, also könne man dort neue Projekte planen“, so Blind. In den letzten Jahren hat er gegen die Errichtung eines Eisenbergwerks in der Region Kallak gekämpft, die 40 km von seinem Wohnort Jokkmokk entfernt ist. Trotz der Proteste gab die schwedische Regierung dem britischen Unternehmen Beowulf Mining am 22. März grünes Licht. 

Die verlorenen Landrechte der Samen bleiben ein viel diskutiertes Thema in Schweden. Die Wahrheitskommission, die im November 2021 begonnen hat, über die Verbrechen des schwedischen Staates an der indigenen Bevölkerung zu ermitteln, wird sich auch mit diesem Thema beschäftigen.

Der ressourcenreiche, „menschenleere“ Norden

Der Norden Schwedens ist reich an sogenannten kritischen Rohstoffen, die für die Energiewende unerlässlich sind. Seltene Erden, Lithium, Kobalt, Nickel und Graphit werden zur Herstellung von Batterien (besonders für elektrische Fahrzeuge) und Windkraftanlagen benötigt. Das „unerschlossene Land“ und die Förderung durch den Europäischen Green Deal sind ein idealer Nährboden für „grüne industrielle Megaprojekte“ wie die Großfabrik für Lithiumionen-Akkus in Skellefteå, schrieb Richard Orange letzten November in The Guardian. Dieser britische, in Schweden lebende Journalist vergleicht den aktuellen Wettkampf um die kritischen Mineralien mit den Goldräuschen von Dubai oder Klondike im 19. Jahrhundert.


Sprüche wie „Steht Sápmi bei“ und „Stoppt den grünen Kolonialismus“ tauchen nun bei den freitäglichen Klimademos auf, die Greta Thunberg 2018 initiiert hatte


Trotz heftiger Proteste gegen die neuen Abbauprojekte - zum Beispiel in Nunasvaara, wo das weltgrößte Vorkommen an Graphit gefunden wurde - bleibt Schweden bei seinem Plan: es will sich bis 2045 komplett auf erneuerbare Energien umstellen und der erste Sozialstaat der Welt werden, der ohne fossile Brennstoffe auskommt. 2015 lancierte die Regierung die Initiative „fossilfreies Schweden“, die „die Hürden und Möglichkeiten einer schnelleren Entwicklung identifizieren“ und politische Vorschläge für die Regierung vorbereiten soll.

Ein „nachhaltiger Abbau“, der auf dem Einsatz von Strom und Biokraftstoff basiert, ist …

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