Ideen Russland, Krieg und Journalismus

Wie ich für den Kreml zur Zielscheibe wurde

Unabhängige russische Journalisten gewinnen den Krieg, aber dafür müssen sie einen hohen Preis zahlen, schreibt der investigative Reporter Andrej Soldatow, der aus eigener Erfahrung weiß, was es bedeutet, im Fadenkreuz des Kremls zu stehen.

Veröffentlicht am 13 Juli 2022 um 17:37

Am Morgen des 6. Juni erhielt ich seltsame SMS-Nachrichten von meiner Bank in Moskau, alle mit derselben Information: Meine Konten seien gesperrt worden, weil es eine Reihe von Abbuchungen gegeben habe, die angesichts meiner Kontoguthaben viel zu hoch waren. Die Bank hatte sämtliche Konten eines nach dem anderen gesperrt.

Als Nächstes kamen Nachrichten von meiner zweiten russischen Bank, in denen stand, dass ich für jedes Konto eine Geldstrafe in Höhe von umgerechnet 80.000 Dollar [rund 77.800 Euro] zahlen müsse.

Als investigativer Journalist habe ich so etwas bereits erlebt. Es sah nach einer Art Phishing-Angriff aus, und dieser Verdacht verstärkte sich noch, als ich auf der Website der Regierung nach Informationen über Geldbußen suchte und nichts fand. 

Erst als ich eine weitere SMS erhielt, konnte ich entschlüsseln, was vor sich ging. Darin hieß es, meine Konten seien nicht einfach nur gesperrt, sondern eingefroren, weil gegen mich nun strafrechtliche Ermittlungen liefen. Auf Anraten meines Moskauer Anwalts überprüfte ich die russische Fahndungsliste auf der Website des Innenministeriums, und da war ich zu finden - einschließlich meines Foto und meiner biografischen Informationen. Die Liste enthielt keine Angaben zu den Vorwürfen oder zu den beteiligten Regierungsstellen.  

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Der nächste Schritt erforderte einige Zeit und Detektivarbeit, aber schließlich wurde mir klar, dass ich, um zu verstehen, was vor sich ging, die Fälle derjenigen untersuchen sollte, die vor mir dran waren – die russischen Journalisten, die seit Beginn des Krieges ins Visier der Behörden geraten waren. Und das half.

Schon bald wurde klar, dass mein Fall und Ermittlungen gegen andere russische Journalisten – alle mit ähnlichen, offiziellen Seriennummern – vom Untersuchungskomitee, der russischen Version des FBI, eingeleitet worden waren. Diese Behörde befasst sich normalerweise mit Fällen, die für den Staat von größter Bedeutung sind. 

Je mehr ich nachforschte, desto klarer wurde mir das Ausmaß der Kampagne des Kremls gegen unabhängige Journalisten. Im Russland des Jahres 2022 könnte man sich in einem Roman Orwells glauben: Diejenigen, die etwas veröffentlichen, das der staatlichen Darstellung widerspricht, werden dort lächerlicherweise beschuldigt, Falschinformationen über den Krieg zu verbreiten. Dieser schwere Straftatbestand wurde kürzlich in das Strafgesetzbuch aufgenommen und bildet die Grundlage für die Verfolgung von Journalisten.

 Das Ausmaß dieser neuen Repressionswelle ist noch nicht bekannt – ich habe von meinem Fall nur erfahren, weil meine Bank mich davon in Kenntnis setzte, und andere Journalisten haben ebenfalls fast zufällig entdeckt, dass sie angeklagt sind. Die Seriennummern unserer Strafverfahren geben jedoch einen Hinweis - die letzten Ziffern liegen zwischen 50 und 500, was theoretisch bedeuten könnte, dass der Kreml in Hunderten von Fällen ermittelt.  

Die Aufnahme in die Fahndungsliste und die in Abwesenheit ausgestellten Haftbefehle sind inzwischen die bevorzugten Mittel des Kremls. Es handelt sich um eine ernsthafte Kampagne, die aber auch von Verzweiflung zeugt: Die anvisierten Journalisten sind diejenigen, die wie ich das Land verlassen haben und die syste…

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