Das ukrainische Mannerheim: Wer ist General Saluschnyj und warum steht seine Taktik im Rampenlicht?

Den Ukrainern ist es gelungen, den Blitzkrieg der "zweitstärksten Armee der Welt" zu vereiteln. Die Schlüsselfigur des ukrainischen Militärs ist General Walerij Saluschnyj. Er ist der erste ukrainische Oberbefehlshaber, der nicht in der Sowjetarmee gedient hat, und gilt als Vertreter einer neuen Generation. Wer ist dieser General, der die ukrainische Armee modernisiert hat?

Veröffentlicht am 25 Juli 2022 um 11:29

Niemand in Europa hat derzeit so viel Erfahrung mit der Führung von Truppen in einem echten Krieg wie Walerij Saluschnyj.Der 49-Jährige ist seit 2014 durch reale Kämpfe im Osten der Ukraine abgehärtet. Er hat seine Professionalität nicht nach sowjetischen Methoden, sondern bei Übungen mit der NATO auf den besten europäischen und amerikanischen Übungsplätzen verfeinert. So ist in der Ukraine eine völlig neue Armee entstanden. Sie steht in keiner Tradition mit der sowjetischen und arbeitet nach westlichen Standards.

Dieser Krieg hat gezeigt, dass die ukrainischen Offiziere in der Lage sind, unabhängig zu denken und zu handeln. Außerdem haben sich die Ukrainer durch neue Kampfmethoden hervorgetan: Sie setzen Drohnen ein, um Logistikkolonnen zu zerstören und Gefechte aus der Ferne zu steuern.

Im Februar 2022 wählten die Ukrainer nicht die herkömmliche Taktik, die Grenzen des Landes "um jeden Preis" zu schützen und aufrechtzuerhalten. Stattdessen ließen sie die russischen Invasionskolonnen tief eindringen und blockierten dann ihre Nachschubwege. Eine ähnliche Taktik wie die des russischen Generals Kutusow während der napoleonischen Invasion von 1812.

Zunächst zerschlug die ukrainische Armee einzelne Kolonnen der Angreifer bei Charkiw, Odessa und Mykolajiw. Der Feind verlor so die taktische Initiative, verringerte sein Vormarschtempo und war gezwungen, die Einnahme von Kiew und Charkiw aufzugeben. Nach einmonatigen Kämpfen, bei denen die Russen dreimal so hohe Verluste erlitten wie die Ukrainer, zog sich die russische Armee aus Kiew und dem gesamten Norden der Ukraine zurück. In der Zwischenzeit wurde die Verteidigungslinie im Donbass um die großen Städte aufrechterhalten. All diese Erfolge bestätigten sowohl die moderne Ausbildung der Truppen als auch die von Walerij Saluschnyj gewählte Taktik.

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Saluschnyj wird auch der ukrainische Mannerheim genannt. [Carl Gustaf Emil Mannerheim war ein finnischer Militärführer, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgreich gegen den sowjetischen Einfluss in Finnland wehrte.]

"Wir wollen weg von den Karten und von Gefechtsbefehlen nach dem Modell von 1943", sagt Saluschnyj. Unter ihm begannen die Ukrainer, aktiv Panzerabwehrsysteme und in der Türkei hergestellte Bayraktar-TB2-Drohnen in der Armee einzusetzen. Und das ist nur die Spitze des ukrainischen Eisbergs gegenüber der russischen Titanic. Tatsächlich gibt es Hunderte von "Saluschnyj" in der ganzen Ukraine, sodass man von einer völlig neuen Generation ukrainischer Soldaten sprechen muss.

Der "sovok", die sowjetische Mentalität ist am Aussterben, sagt Saluschnyj. "Junge Leute, Absolventen von Militärakademien, kommen jetzt zu uns. Es ist sehr interessant zu beobachten, wie ein Mensch, der vor Kurzem noch am Schreibtisch saß, ohne zu zögern an die Front geht. Innerhalb eines Jahres werden sie zu Kompaniechefs. Das sind ganz andere Soldaten als wir, als wir Leutnants waren. Sie alle beherrschen eine Fremdsprache, können gut mit Kriegsgerät umgehen und sind sehr gebildet", sagt Saluschnyj.

Die militärischen Erfolge der Ukraine wurden dank dieser neuen Generation von Soldaten, moderner Methoden der Kriegsführung und westlicher Geheimdienstdaten möglich. Es war ein phänomenaler Erfolg, vor allem wenn man bedenkt, dass die westlichen Länder vor dem Krieg davon ausgingen, dass die Russen die ukrainische Armee in wenigen Tagen vernichten würden. Doch die Dinge liefen nicht nach russischem Plan.

Walerij Saluschnyj in April 2022. | Foto: Офис Президента

Walerij Saluschnyj studierte am Institut für Bodentruppen in Odessa und schloss seine Ausbildung mit Auszeichnung ab. Dann begann er seine Militärkarriere: zunächst als Zugführer, dann als Kommandeur eines Ausbildungszuges, als Kommandeur eines Kampfzuges, als Kommandeur einer Ausbildungskompanie, dann als Kommandeur einer Kadettenkompanie und schließlich als Kommandeur eines Bataillons.

Als 2014 der russisch-ukrainische Krieg begann, wurde er in den Osten geschickt, wo er eine Brigade befehligte, die im August 2014 in der Nähe von Debalzewe eingesetzt wurde. Im Jahr 2017 erlangte er den Rang des Generalmajors, obwohl er an der Front blieb. Ein Jahr später wurde Saluschnyj zum Chef des gemeinsamen Einsatzstabs und 2019 zum Chef des Einsatzführungskommandos Nord ernannt. Dieses ist in Tschernihiw stationiert, wo seine Mutter geboren wurde und wo er als Kind viel Zeit verbrachte. Während dieser Zeit blieb er ständig an der Front und verbesserte seine militärischen Fähigkeiten. 2020 schloss er sein Studium an der Ostrog-Akademie mit einem Master in internationalen Beziehungen ab.


Wir haben den Feind von allen Seiten aufgehalten. Wir haben ihm Verluste zugefügt, wie er sie noch nie gesehen oder sich vorgestellt hat. Alle Ukrainer wissen das. Die Welt weiß es.

Walerij Saluschnyj

Im Juli 2021 wurde Walerij Saluschnyj zum Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte ernannt. Dies geschah im Rahmen einer umfassenden Umstrukturierung des Militärkommandos, das von der Politik getrennt wurde. Saluschnyj ist bekannt für seine Offenheit, seine Kampferfahrung und seinen Respekt für die einfachen Soldaten.

Anfang 2022, als die ukrainische Führung wahrscheinlich schon wusste, dass ein Krieg unvermeidlich war, sagte Saluschnyj: "Unsere NATO-Partner hatten nur eine Frage - nämlich ob ich ihre Besorgnis teile? Ich habe geantwortet, dass ich mir einmal Sorgen gemacht habe, aber nur einmal. Das war 2014, als ich zum ersten Mal ein Maschinengewehr und einen Schutzpanzer bekam und in den Krieg zog. Damals hatte ich Bedenken, aber seitdem tue ich ganz einfach meine Arbeit."

Seit Beginn der groß angelegten russischen Invasion Ende Februar hat Saluschnyj Interviews vermieden und ist kaum in der Öffentlichkeit aufgetreten. Gelegentlich postet er kurze Nachrichten auf seiner Facebook-Seite oder Beiträge, in denen er dem Militär und der Bevölkerung dankt.

Der ukrainische Präsident Selenskyj hat die Erfolge der ukrainischen Armee und Saluschnyjs Professionalität gewürdigt und ihm Anfang März den militärischen Rang eines Generals verliehen. Eine Umfrage des Nachrichtenmagazins Ukrainska Pravda ergab, dass der Oberbefehlshaber zum Präsidenten gewählt würde, wenn es derzeit Wahlen gäbe.

Doch Saluschnyj bittet die Politiker, insbesondere die Oppositionspolitiker, sich nicht in die Armee einzumischen. "Ich möchte an all jene Politiker appellieren, die aus den Städten im Hinterland von 'Verrat' sprechen und 'Einschätzungen' zur operativen Lage abgeben. Mit Ihren unverantwortlichen Behauptungen, zum Beispiel, dass der Feind etwas ohne Probleme eingenommen habe oder dass die Kapitulation des Landes vorbereitet werde, beleidigen Sie unsere Soldaten", sagte er.

"Wir haben den Feind von allen Seiten aufgehalten. Wir haben ihm Verluste zugefügt, wie er sie noch nie gesehen oder sich vorgestellt hat. Alle Ukrainer wissen das. Die Welt weiß es. Ich appelliere an Sie: Demütigen Sie unsere Soldaten nicht mit Ihren 'Experteneinschätzungen'. Sie stehen jetzt nicht an vorderster Front. Und es sind nicht Ihre Kinder. Jeder sollte sein eigenes Ding machen. Wir schützen die Ukraine", fügte er hinzu.

Heute kämpfen nicht nur die russische und die ukrainische Armee gegeneinander, sondern zwei Weltanschauungen und zwei Philosophien. Und die Tradition der Zentralisierung mit Befehlen von oben nach unten hat bereits verloren.

Dieser Artikel wurde im Rahmen unseres Projekts zur Unterstützung unabhängiger belarussischer Medien und Journalisten veröffentlicht.
👉 Originalartikel in Nasha Niva

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