Analyse Klimakrise

Soziale Gerechtigkeit: Wer bezahlt die Energiewende in Europa?

Der Kampf gegen die Erderwärmung ist nur schwer mit der Wirtschaft zu vereinbaren. Mit einer Reihe neuer Initiativen, Fonds und Innovationen will die EU den „gerechten Übergang” schaffen, ohne den ärmeren Haushalten damit zu schaden. Doch der gute Wille prallt auf die Realität von nicht auf Veränderung vorbereiteten Industrien, Arbeitsplätzen und Systemen.

Veröffentlicht am 1 Oktober 2022 um 11:30

Herbst 2018. Auf Kreisverkehren in ganz Frankreich versammeln sich jeden Samstag Männer und Frauen mit gelben Westen und demonstrieren gegen die Erhöhung der CO2-Steuer. Sie wurde 2014 für fossile Energien – darunter auch Benzin, Diesel, Öl und Gas – eingeführt, um die Konsumentinnen und Konsumenten zu mehr Umweltschutz zu animieren. In Paris, nur einen Steinwurf vom Sitz des französischen Präsidenten entfernt, wächst die Wut der Demonstrierenden ins Unermessliche.

Perplex beobachtet Europa die „Gelbwesten”-Bewegung und kommt zu dem Schluss, es sei an der Zeit für die Lösung der Gleichung „Ende der Welt versus. Ende des Monats”. Anders ausgedrückt: Wie kann der Klimawandel aufgehalten werden, ohne dass die Ärmsten der Gesellschaft Schaden davontragen?

Lange Zeit ging es in Europa beim Umweltschutz nur um Energieeffizienz, Reduzierung von Treibhausgasemissionen und den Ausbau erneuerbarer Energien. Der soziale Aspekt hingegen spielt erst seit der Wahl von Ursula von der Leyen zur Präsidentin der EU-Kommission und dem europäischen Grünen Deal wirklich eine Rolle. Dieser umfasst eine Vielzahl von Initiativen, mit denen bis 2030 die Treibhausgasemissionen um 55 Prozent verringert werden sollen.

Ebenfalls auf der Agenda: der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und ein Produktionsstopp für Verbrennermotoren in der Automobilindustrie bis 2035. Diese Maßnahmen betreffen jedoch Millionen von Arbeitsplätzen in bestimmten Regionen. Nach Angaben des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (ETUI) konzentrieren sich 90 Prozent der Arbeitsplätze in der Kohleindustrie auf nur zehn europäische Regionen, vier davon liegen in Polen. In der Automobilindustrie, die fünf Prozent des europäischen Arbeitsmarktes ausmacht, müssen wegen der Umstellung auf Elektromotoren 500.000 Stellen gestrichen und Millionen weitere Angestellte neu geschult werden.

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In Italien, Mittel- und Osteuropa ist ein Großteil der Automobilindustrie angesiedelt – hier wird es die größten Veränderungen geben. Um diesen Umbruch zu begleiten, hat die EU den Mechanismus für einen gerechteren Übergang (JTM) ins Leben gerufen. Dabei handelt es sich um einen Fonds über 17,5 Milliarden Euro für einen Zeitraum von sieben Jahren, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus den am stärksten betroffenen Industrien bei Jobsuche und Weiterbildungen finanziell unter die Arme greifen soll.

Doch der von den Gewerkschaften hart erkämpfte Fonds reicht nicht, sagt der europäische Gewerkschafter Ludovic Voet: „Für die Schaffung sicherer Arbeitsplätze mit guten Gehältern müssen viele Branchen reformiert und viele Investitionen getätigt werden. Zum Vergleich: Deutschland hat allein für den Kohleausstieg 40 Milliarden hingeblättert.” Abgesehen vom finanziellen Aspekt sind die für umweltfreundliche Berufe erforderlichen Kompetenzen noch zu ungenau eingegrenzt und der wirtschaftliche Nutzen der Berufe selbst nicht ausreichend.

„Die Schließung der Braunkohleminen in Maritsa (Bulgarien) gefährdet 12.000 Stellen und betrifft 120.000 weitere Personen in der Region”, so Voet weiter. Um den sozialen Schock zu dämpfen, müssen die Maßnahmen den gesamten Großraum einbeziehen. Mit 84 Millionen Euro aus dem Fonds für einen gerechten Übergang hat Irland ein Programm für die vom Torfabbau abhängige Region der Midlands aufgelegt: enthalten sind Projekte zur Energieeffizienz und Regenerierung der Torfmoore sowie ein Fonds für die Weiterbildung der Angestellten und zur Unterstützung der Unternehmen und Gemeinden.

„In dieser dünn bevölkerten Region wäre es nicht gut, die Angestellten und ihre Familien umzusiedeln”, erklärt Jorge Cabrita von der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. „Örtliche Behörden, Gewerkschaften, NGOs und Experten haben sich zusammengeschlossen, um den Übergang zu begleiten und die Bedürfnisse der Angestellten und Unternehmen besser zu verstehen.”

Eine großflächige Datenauswertung wäre der notwendige Schlüssel zu einem gerechten Übergang, findet der Wissenschaftler. Bleibt nur das Problem, dass auf europäischer Ebene die Mittel fehlen. Dies bezeugt auch ein anderes europäisches Projekt: der Klima-Sozialfonds, der aktuell noch im Europaparlament und Europarat verhandelt wird und die ärmsten Haushalte Europas bei der Energiewende zuhause und in der Mobilität unterstützen soll. Doch tatsächlich kompensiert er nur das ebenfalls neue und für schwächere Haushalte schwer tragbare Emissionshandelssystem (ETS2), aus dem die Mittel für den Klima-Sozialfonds fließen werden.

Das ETS2 wird ebenfalls noch in Brüssel verhandelt und folgt dem Vorbild des Emissionshandelssystems für die Bereiche Industrie und Elektronik (ETS1), in dem die Unternehmen mit Zertifikaten für CO2-Emissionen handeln können, wenn sie eine bestimmte Obergrenze erreicht haben. Der Preis pro Tonne CO2 wird dabei von Angebot und Nachfrage bestimmt.

Ähnlich soll auch bei ETS2 ein CO2-Preis fürs Heizen und die Nutzung des Straßenverkehrsnetzes festgelegt werden, was für die Haushalte eine neue Belastung darstellt. „Dieses Emissionshandelssystem wurde von den ,Sparsamen Vier’, also Österreich, Dänemark, Schweden und den Niederlanden auf den Weg gebracht, deren Marktlogik vom ökologischen Wandel geprägt ist”, bespricht Camille Defard vom Institut Jaques Delors. „Ihnen gegenüber stehen die ost- und südeuropäischen Länder mit dem Klima-Sozialfonds, einem europäischen Solidaritätssystem.” 

In Frankreich könnte das neue Emissionshandelssystem die CO2-Steuer ersetzen, sofern die Bürgerinnen und Bürger nicht beides zahlen müssen – die Rechnungen wären auf jeden Fall hoch, obwohl die aktuellen Energiepreis-Subventionen die CO2-Steuer momentan ausgleichen. So oder so wird der Klima-Sozialfonds den Schock wohl kaum dämpfen können. „Dieser Fonds wird nur von einem Viertel der ETS2-Abgaben finanziert und ist nicht groß genug, um für alle schwachen Haushalte die CO2-Steuern auszugleichen.

Zumal für den Ausstieg aus fossilen Energien und einen strukturellen Wandel des Systems auch grüne Investitionen getätigt werden müssen. Der Fonds ist absolut unterdimensioniert”, findet Defard: Die EU-Mitgliedstaaten seien zu kurzsichtig. In Deutschland etwa war das dreimonatige Programm zum 9-Euro-Ticket zwar ein Erfolg, aber wie sieht es mit langfristigen Investitionen in das wenig effiziente und schlecht gewartete Schienennetz aus? 

Angesichts des Klimawandels braucht Europa eine nachhaltige soziale Gerechtigkeit – in allen Bereichen.


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