Antonio Tajani: „Die Industrie muss im Mittelpunkt des Konjunkturprogramms stehen“

Veröffentlicht am 20 Mai 2013 um 15:41

Der Aufgabenbereich von EU-Industriekommissar Antonio Tajani hat ganz besonders unter der Krise gelitten. Er soll dazu beitragen, das Wachstum wieder anzukurbeln. Am Rande des Internationalen Journalismus-Festivals im italienischen Perugia verriet uns Antonio Tajani die Rezepte der EU, um die europäische Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Außerdem sprach er über seine Vision der Krise, seine Beziehung zu den Bürgern, sowie die Zukunft Europas.

Herr Tajani, im Augenblick ist die Krise in Europa in vollem Gange: In mehreren Ländern erreichen die Arbeitslosenzahlen Rekordwerte. Und mit der beachtenswerten Ausnahme der deutschen Betriebe stellen Experten nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen in Frage, sondern prangern auch die schwache Binnennachfrage an. Wie kann dieser Trend wieder umgekehrt werden?

Mit einer Politik, die es den Unternehmen ermöglicht, wieder zu produzieren. Das bedeutet vor allem, dass der Zugang zu Krediten und Geldern erleichtert werden muss, auf die sie Anspruch haben. Aus diesem Grund hat die Europäische Kommission eine neue Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr vorgeschlagen, die bereits von achtzehn Mitgliedsstaaten angenommen wurde.

Mit dieser Richtlinie und einer flexiblen Auslegung des Stabilitätspakts, welche die Rückzahlung der von den Staaten gemachten Schulden ermöglichen würde, müsste Europa wieder mehr als 180 Milliarden Euro in Umlauf bringen können und so einen Engelskreis der Produktion und des Verbrauchs in Gang setzen.

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Darüber hinaus muss die Europäische Zentralbank (EZB) mehr Machtbefugnisse erhalten: Sie muss die gleichen Funktionen wahrnehmen können wie das Federal Reserve System der USA. [EZB-]Präsident Mario Draghi sieht das ganz genauso. Er wünscht sich eine Europäische Zentralbank, die in der Lage ist, eine Währungspolitik im Interesse der Bürger zu betreiben.

Aufgrund der Einkommensunterschiede zwischen den europäischen Ländern bestehen auch Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen dieser Länder. In den Augen vieler Experten verfälscht dies die Konkurrenz innerhalb der Union. Wird die EU sich für eine Harmonisierung dieses Bereichs stark machen?

Was die Wettbewerbsfähigkeit gefährdet sind nicht die Lohnunterschiede, sondern die steuerliche Belastung, unter der die Unternehmen leiden. Insbesondere in den Ländern, in der diese unverhältnismäßig groß ist. Genau in diesem Bereich kann man aber etwas tun. Die Staaten müssen die Steuerbelastung verringern, die Betriebe bezahlen und den Zugang zu Krediten erleichtern. Letzten Endes schafft man auf diese Weise bessere Bedingungen für alle Arbeitnehmer.

Für die europäische Automobilindustrie war 2012 ein schwarzes Jahr. Und 2013 wird nicht wirklich anders werden – mit Ausnahme des Automobilriesen Volkswagen. Was unternimmt die EU?

Wir haben einen Aktionsplan in Gang gebracht, der drei Schwerpunktbereiche verfolgt: Erstens sollen die Mittel für Forschung und Innovation im nächsten Haushaltsplan für die Automobilindustrie verdoppelt werden. Zweitens dürfen handelspolitische Maßnahmen nicht mehr „von Naivität geprägt“ sein, was so viel bedeutet wie: Im Rahmen der Handelsabkommen müssen sie die Interessen der Automobilindustrie schützen. Und Drittens müssen die bestehenden Regeln vereinfacht werden. In Ausnahmefällen, beispielsweise im Bereich der Sicherheit im Straßenverkehr, können dafür neue Regeln oder Vorschläge ausgearbeitet werden. Ziel des Ganzen soll es sein, die normative und finanzielle Last für die Unternehmer so gering wie möglich zu halten.

Macht es Sinn, einen Sektor wie die Automobilindustrie zu unterstützen, während immer mehr Städte die Anzahl der Fahrzeuge auf ihren Straßen reduzieren wollen?

Was keinen Sinn macht, ist die Reduktion der Automobilproduktion. Vielmehr muss intelligent vorgegangen werden: Die Mittel für Forschung und Innovation werden nur für „grüne“ Autos verdoppelt, d. h. Elektrofahrzeuge, Autos mit Wasserstoffantrieb und andere umweltfreundliche Kraftfahrzeuge.

Den Prognosen zufolge wird es im Jahr 2050 weltweit etwa 2,5 Milliarden Fahrzeuge geben. Derzeit beträgt diese Zahl 1,7 Milliarden. Dementsprechend wird es insbesondere im Exportbereich und bei der Internationalisierung Gewinnmöglichkeiten geben. So hat Fiat sich beispielsweise in Brasilien niedergelassen. Seine Fabriken in Italien kann der Automobilhersteller übrigens nur aufgrund der [in Südamerika] erzielten Erfolge halten.

Wann wird der Europäische Rat diese Vorschläge genauer unter die Lupe nehmen?

Ende Juni wird ein Wettbewerbsfähigkeits-Gipfel stattfinden. Auf ihn wird zu Beginn [des nächsten Jahres] ein Industrie-Gipfel folgen, der die Industrietätigkeiten in den Mittelpunkt rücken wird. Ein dritter, für Jahresende geplanter Gipfel wird sich schließlich mit Verteidigungsfragen beschäftigen.

Nachdem die Führungsspitzen die Industrie jahrelang links liegen gelassen haben und irrtümlicherweise nur noch Augen für die Finanzwelt hatten, ist Europa nun endlich wieder dabei, die Industrie zum Dreh- und Angelpunkt ihres Wirtschaftssystems zu machen. Um deutlich zu machen, wie bedeutsam dies ist, reicht es aus, sich folgende Zielsetzung anzuschauen: Bis 2020 soll das verarbeitende Gewerbe 20 Prozent der Wirtschaftstätigkeit der EU ausmachen. Momentan liegt sein Anteil unter der sechzehn-Prozent-Marke.

Die Deindustrialisierung, die in den 1980er Jahren in Europa einsetzte, gilt als einer der Gründe für die Wirtschaftskrise. Besteht die Absicht, dies rückgängig zu machen?

Die Deindustrialisierung war ein großer Fehler. Was wir stattdessen brauchen ist eine modernere und wettbewerbsfähigere Industrie. Dafür muss es eine dritte industrielle Revolution stattfinden: Nach der [Revolution] der Kohle und des Erdöls schlägt nun die Stunde der Energiesparmaßnahmen, der grünen Energien, sowie der Schlüsseltechnologien. Wie die Bio- oder die Nanotechnologien ermöglichen sie es der Industrie, weltweit allerhöchste Maßstäbe zu setzen.

Wie würden Sie Ihr Verhältnis angesichts all dieser Vorhaben zu Ihren Kollegen innerhalb der Kommission beschreiben? Ich denke dabei beispielsweise an Ihren Kollegen, der für die Umwelt verantwortlich ist, oder [die EU-Kommissarin] für Forschung, Innovation und Wissenschaft.

Diesbezüglich bin ich der gleichen Meinung wie der EU-Umweltkommissar Janez Potočnik. Wir finden es richtig, den Ausstoß von Kohlendioxid reduzieren zu wollen, solange sich dies nicht als kontraproduktiv erweist.

In meinen Augen gibt es triftige Gründe dafür, [die Emissionen im Vergleich zu 1990 bis 2020] um zwanzig Prozent zu reduzieren. Allerdings glaube ich nicht, dass es sinnvoll ist, sich ein noch höheres Ziel zu stecken, wie einige es nahelegen. Zumal dies für die europäischen Unternehmen zusätzliche Kosten bedeuten würde. Letztlich könnte sie Europa aufgrund dessen den Rücken kehren. So würden wir nicht nur Arbeitsplätze, sondern letztendlich auch den Kampf gegen die Klimaerwärmung verlieren. Schließlich würden die Unternehmen in Länder auswandern, die flexibler mit Kohlendioxidemissionen umgehen, und die dortige Luft verpesten.

Dem jüngsten Eurobarometer zufolge vertrauen immer weniger Europäer den europäischen Institutionen. Was können wir gegen dieses Misstrauen unternehmen?

Die Abkehr [von Europa] ist eine der Folgen der Wirtschaftskrise: Europa erscheint den Europäern als eine Einrichtung, die vor allem Opfer fordert. Dieser Trend muss umgekehrt werden. Außerdem sollte man sich intensiv mit den Wahlergebnissen beschäftigen: In zahlreichen Ländern der Union herrscht eine anti-europäische Stimmung, die sich zunehmend gegen den Euro richtet.

[Um dem entgegenzuwirken] muss ein politischer Kurswechsel stattfinden, sowie Wachstum und Realwirtschaft ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden. Schluss mit Opfern! Auf zu Hilfsprogrammen für die Industrie, für Unternehmen und für den Binnenmarkt! Genau das hob jüngst auch EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hervor. Die Sparpolitik trug und trägt nur dann Früchte, wenn sie von Maßnahmen begleitet wird, die das wirtschaftliche Wachstum fördern.

Sind Sie diesbezüglich der Meinung, dass die Kommunikation der Europäischen Kommission als wirksam und zufriedenstellend bezeichnet werden kann?

In diesem Bereich müssen Anstrengungen unternommen werden. Insbesondere, um verständlich zu machen, was unsere genauen Aufgaben sind.

Ich persönlich reise sehr viel. Gerade weil es so wichtig ist, zu erklären, was wir unternehmen. Dieses Jahr haben wir beispielsweise eine Initiative ins Leben gerufen, um Europa seinen Bürgern näherzubringen. In diesem Kontext sollen Treffen organisiert werden, zu deren Anlass Europäer auf Plätzen, in Rathäusern, usw. zusammenkommen sollen.

In einem Jahr wird die Europawahl stattfinden. Werden Sie kandidieren?

Ich denke nicht. Vielmehr möchte ich mein Mandat bis zum Ende ausfüllen. [Es läuft im Oktober 2014 aus.]

Was halten Sie von dem Vorschlag, der von mehreren europäischen Politikern und Intellektuellen eingebracht und von Europas Sozialisten und Demokraten aufgegriffen wurde, und demzufolge die europäischen Parteien ihren Kandidaten für die Präsidentschaft der EU-Kommission als Spitzenkandidaten auf ihre Listen setzen sollten?

Prinzipiell bin ich dafür, dass der Präsident der EU-Kommission von den Bürgern gewählt wird. Die Wiederwahl Barrosos zum Kommissionspräsidenten 2009 ging in diese Richtung, zumal die [Europäische Volkspartei, kurz EVP, damals die Wahl gewann] (20601). In gewisser Hinsicht wurde damit auch die Forderung nach mehr Demokratie bei der Vergabe europäischer Ämter befriedigt.

Wer könnte sich als Kandidat der EVP aufstellen lassen?

Innerhalb der Partei sind wir noch nicht so weit, über einen bestimmten Kandidaten zu diskutieren. Diesem Thema werden wir uns nächstes Jahr widmen.

Die Union ist an einem entscheidenden Scheideweg angekommen. Zwischen den euroskeptischen Meinungen und der Versuchung mehrerer Länder, sich zurückzuziehen, ist die Union hin- und hergerissen. Wie sieht ihre Zukunft ihrer Meinung nach aus?

Ich denke, dass wir auch in Zukunft vorankommen müssen. Nur Flicken aufsetzen bringt nun einmal nichts. Wir müssen den Weg weitergehen, an dessen Ende die Vereinigten Staaten von Europa winken. Wenn wir am Scheideweg stehenbleiben, droht uns das Hochwasser irgendwann mitzureißen.

Natürlich braucht all das Zeit. Um dies zu erreichen mussten die Amerikaner ein Jahrhundert und einen Bürgerkrieg über sich ergehen lassen. Dabei stellten sich ihnen vermutlich weniger Probleme als wir vor uns haben.

Im Augenblick wimmelt es nur so von Schwierigkeiten. Wer aber hätte vor zwanzig Jahren gedacht, dass es eine Einheitswährung geben würde? Wir müssen entschieden handeln und zuversichtlich sein. Schließlich ist es auf globaler Ebene einfach undenkbar, allein zu handeln. Ganz gewiss ist es nicht so, dass morgen früh schon alles in Butter sein wird. Aber ich gebe die Hoffnung ganz bestimmt nicht auf, die Vereinigten Staaten von Europa eines Tages mit meinen eigenen Augen zu sehen.

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