Auslese: “Merkel macht, was sie will”

Veröffentlicht am 28 Oktober 2011 um 10:17

Der Schicksalsgipfel ist geschafft. Aber in Europas Presse kehrt keine Ruhe ein. “Rettungspaket voller deutscher Panzer”, packt Eleftherotypia furchtlos auf die Titelseite. “Die deutsche Vorherrschaft solle Europa zu ehrgeizigen Projekten anhalten”, hält Le Figaro dagegen.

Angela Merkel stand diese Woche im Mittelpunkt als Frau "die den Euro retten soll", aber bitte nicht mit der Brechstange. Mal blickte sie, mal stierte sie, mal lächelte von den Titelseiten. Le Monde Mag titelte: "So stark, so schwach: Ein Paradox namens Merkel", und erklärte in seinem "Porträt einer Deutschen mit dem Rücken zur Wand", warum Merkel, deren Bilanz jeden anderen Regierungschef vor Neid erblassen ließe, deren internationaler Ruf eher schmeichlerisch sei, in der Heimat kritisiert würde wie nie zuvor.

Sie denkt erst wirtschaftlich und dann politisch, denn sie kommt aus dem Osten und ist nicht in der Kultur der europäischen Einigung aufgewachsen, die Deutschland immer befähigte, sich politisch allen seinen europäischen Nachbarn anzunähern. Ich glaube nicht, dass sie über ihren Platz in den Geschichtsbüchern nachdenkt. Der Vorteil ist, dass sie weniger anmaßend, weniger arrogant ist. Der Nachteil: Wenn gewichtige Entscheidungen anstehen, zögert sie.

In Großbritannien entpuppt sich Star-Historiker Timothy Garton Ash als begeisterter Beobachter von Parlamentsdebatten, und [berichtet im Guardian](http:// http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2011/oct/26/europe-national-debates) über seine Zuschauererlebnis in London und Berlin.

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Auf den ersten Blick war der Kontrast wunderbar: lackiertes Holz und grünes Leder auf den Bänken in Westminster gegen den kühlen, modern grau-blau segmentierten Plenarsaal des Bundestags; die altmodischen Nadelstreifenanzüge, die Wänste und sub-Churchillhaften, pflaumenartigen Töne der Euroskeptiker von den Tories gegen die fast farblich gekennzeichneten hellgrau-blauen deutschen Parlamentarier, die ihre charakteristischen langen Lego-Sätze von sich gaben. Beiden aber ging es um Demokratie. [...]

Aber sehen Sie sich zum Beispiel Merkels Satz an. Nachdem sie verspätet verkündete, dass die Opfer der Menschen in Griechenland den Respekt der Deutschen zollten (sagen Sie das der deutschen Boulevard-Presse) fuhr sie fort, dass die Lösung der Probleme in Griechenland nicht nur strenge Auflagen erfordere, sondern auch eine permanente "Überwachung" in Griechenland. Stellen Sie sich einen Moment vor, wie sich diese deutschen Worte in griechischen Ohren anhören, mit der griechischen Geschichte im Hinterkopf.

Bis Athen musste Garton Ash nicht sehen, zu Hause brachte die Boulevardpresse das Blut der Engländer ordentlich in Wallung. Der Daily Express titelte mit seiner Interpretation von Angela Merkels Worten im Bundestag "Scheitert der Euro, scheitert Europa", das da wird zu: "Deutschland warnt vor Krieg in Europa...

Ansonsten pflichtet der Leser der griechischen Presse Garton Ash bei. In Athen stellte To Ethnos am Vortag des Gipfels fest, Merkels Veto halte ganz Europa auf.

In Brüssel herrscht eine explosive Stimmung. Alles hängt von der Position Deutschlands ab. Angela Merkel errichtet eine Mauer zwischen ihrem Land und dem Rest Europas.

Und die Kollegen von der Eleftherotypia setzten am Folgetag noch einen drauf und titelten: Mit dem "Rettungspaket voller deutscher Panzer" gerieten Griechenland und alle anderen Europäer unter Berlins Fuchtel.

Selbst der französische Präsident wird von seiner eigenen Presse dafür kritisiert, die deutschen Ansichten zu teilen. Andere EU-Politiker wie der Luxemburger Jean-Claude Juncker sorgen sich um die deutsche Vormachtstellung. Aber all das nützt nichts. Kanzlerin Merkel macht, was sie will. Für Griechenland hat sie den Schuldenschnitt von 50 Prozent, sowie tiefgreifende Strukturreformen und die damit unweigerlich verbundenen Sparmaßnahmen durchgesetzt. Das ist die wirkliche Gegenleistung für das Schuldenschnitt-"Geschenk": Der Sparkurs. [...]

Folglich sind Griechenland und die ganze Eurozone Deutschland ausgeliefert. Wenn wichtige Entscheidungen diskutiert und letztendlich von einem einzigen Land entschieden werden, das niemals nachgibt, legen die anderen zwangsläufig den Rückwärtsgang ein. Wenn das so weitergeht und kein anderes Land auch einmal seine Meinung durchsetzen kann, dann kann Europa und ganz speziell den kleinen Ländern als den schwachen Gliedern der Kette nichts Gutes passieren.

Sind die kleinen Länder also abgemeldet? Auch in Lissabon ist Público nicht mit dem Gipfel zufrieden.

Der EU-Gipfel, von dem viele meinten, er sei der Schicksalsgipfel in der Eurokrise, hat stattgefunden, aber ohne dass etwas Grundlegendes entschieden worden wäre. Er war ausgehöhlt von fehlendem Ehrgeiz und einem konfliktträchtigen Klima zwischen den Duos Merkel/Sarkozy und Cameron/Berlusconi. Der Gipfel zeigte erneut die Diskrepanz zwischen Europa und seinem Schicksal. 'Jetzt oder nie' hatte die deutsche Kanzlerin am Morgen noch versprochen. Aber hinter den Worten ist die Chefin von Europas politischen und wirtschaftlichen Motor nicht gewillt, einen Penny für die Problemlösung zu riskieren.

Und während Cartoonist Steve Bell im Guardian ins europäische Schlafzimmer schaute, schrieb die flämische Tageszeitung De Standaard: Der deutsche Einfluss könne auch als Zeichen dafür gesehen werden, dass in ganz Europa derzeit as Mittelmaß herrsche:

Deutschlands Gewicht in der Europapolitik ist schwerer denn je, sein Einfluss wächst von Tag zu Tag. [Aber] seit dem Urteil aus Karlsruhe am 7. September ist die Bewegungsfreiheit eines deutschen Kanzlers deutlich eingeschränkt. Im Vergleich zu Helmut Kohl ist Merkel ein Mini-Kanzler. Die Tatsache, dass sie trotz all dem die mächtigste Regierungschefin Europas bleibt, spricht Bände über Europas derzeitige Schlagfertigkeit.

Unabhängig davon aber, was in der Folge des Gipfels passieren möge, [schlug sich in Paris Le Figaro](http:// http://www.presseurop.eu/de/content/press-review/1091341-merkel-hat-die-hosen) in den deutschen Windschatten.

Zwischen Merkels Deutschland und Berlusconis Italien brauchen wir wohl nicht zu zögern. Diejenigen, die kritisieren, dass Paris sich angeblich Berlin unterordnet, haben nicht verstanden, wie tief wir in der Krise stecken. […] Die deutsche Vorherrschaft ist eines der Elemente der sich abzeichnenden neuen Architektur. Diese soll uns zu ehrgeizigen Projekten motivieren, um Europa neu aufzubauen, Hand in Hand mit Deutschland. (cl)

In Zusammenarbeit mit SPIEGEL ONLINE.

Foto: Le Monde.

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