Berlusconi „stürzt uns ins Chaos”

Am 28. September traten fünf Minister der Partei Popolo della Libertà (Volk der Freiheit) aus der Regierung unter dem demokratischen Ministerpräsidenten Enrico Letta zurück. Dies löste in Italien ein politisches Erdbeben aus. Silvio Berlusconis persönliche Entscheidung wird von der italienischen Presse fast einstimmig kritisiert.

Veröffentlicht am 30 September 2013 um 15:25

Nur wenige Tage vor der Abstimmung des Senats über Berlusconis eventuelle Absetzung aufgrund seiner Verurteilung wegen Steuerbetrugs löste der Parteichef der PDL diese Regierungskrise aus. Sein offizieller Grund: Er weigere sich, mehrere finanzpolitische Maßnahmen zu billigen, darunter die Erhöhung der Mehrwertsteuer.

Der Corriere della Sera macht sich zum Sprachrohr der „Moderati“, die nicht nur den Kern seiner Leserschaft, sondern auch den von Silvio Berlusconis Wählern ausmachen und die heute „empört“ sind. Chefredakteur Ferrucio de Bortoli schreibt:

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Die unverantwortliche Entscheidung Berlusconis und seiner Getreuen [...] hat den bitteren Beigeschmack der unbesonnenen, verzweifelten Gesten. Sie ist zwecklos. Sie ändert nicht das Geringste an der gerichtlichen Zukunft des Cavaliere, doch sie drängt ein als Geisel gehaltenes Land an den Rand eines neuen Abgrunds. Der Schlag gegen Lettas Regierung […] verursacht einen unberechenbaren Schaden, insbesondere für Berlusconis Wählerschaft, die aus Familien und Unternehmen besteht. […] Das Argument des Cavaliere – eine instinktive Reaktion auf übermäßige Steuern – ist nur ein absurder Vorwand. Sollte es zu vorgezogenen Wahlen kommen, rechnen sich die Kosten des Pronunciamiento in [Berlusconis Wohnsitz] Arcore schnell: Die bescheidenen Anzeichen für einen Wiederaufschwung verflüchtigen sich, die großen internationalen Investoren hegen noch mehr Misstrauen gegen ein Land, das sie nicht verstehen und in dem sie ihr Kapital nicht riskieren wollen. Die Fremdkapitalkosten sind zum Steigen verurteilt. [...] Die Unternehmen gehen weiter ein und vielen von ihnen gelingt es nicht, den Aufwind im Wachstum zu nutzen. [...] Die Zahl der Arbeitsplätze sinkt weiter. Der Haushalt 2014 [...] wird von Brüssel vorgeschrieben. Die Vorteile, nachdem das Land im Mai dem übermäßigen Haushaltsdefizit entkommen war, verschwinden. Die Regierung, die die nächsten Wahlen gewinnt, wird wahrscheinlich eine bedingungslose Kapitulation vor der Troika der EU, der EZB und des IWF unterzeichnen müssen.

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Auch Mario Calabreso, Direktor der Stampa, hält der Krise, die er als „nutzlos und katastrophal“ einstuft, ein entschiedenes „Basta!“ entgegen:

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Silvio Berlusconis überraschende Entscheidung, seine Minister zurücktreten zu lassen, um die Regierung zu stürzen, ist ein schwerer Schlag für unser Land. Eine Demütigung, die uns ins Chaos stürzt, unsere Glaubwürdigkeit beeinträchtigt, uns wieder auf den Prüfstand stellt und die schlimmsten Vorurteile über die Italiener bestätigt. Wir sollten diese Woche nur darüber diskutieren, dass das führende Telekommunikationsunternehmen des Landes in ausländische Hände fällt oder dass unsere nationale Fluggesellschaft bald nicht mehr unsere Landesfarben tragen wird, doch statt dessen werden wir in den Strudel der gerichtlichen Probleme eines einzigen Mannes hineingezogen. [...] In zwei Wochen soll das Haushaltsgesetz 2014 vorgestellt werden, ein Schlüsselmoment für alle, deren Staatsfinanzen so anfällig sind wie unsere. Am 15. November werden die europäischen Beurteilungen veröffenlicht, unsere Staatsschulden steigen gefährlich, der IWF sprach vor zwei Tagen von einem Risiko für Italien. Und wir, die wir Schutz und Glaubwürdigkeit dringendst nötig hätten, stehen nackt und unbewaffnet da.

In der Berlusconi nahe stehenden Presse ist der Ton ein ganz anderer. So beschuldigt der Leiter des Giornale, Alessandro Sallusti, Ministerpräsident Enrico Letta und seine Steuern, die „Regierung zu Fall gebracht“ zu haben und verteidigt die Entscheidung des Cavaliere, seine Interessen im Hinblick auf die nächsten Wahlen zu schützen:

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Wieder einmal [...] haben Politiker und Kommentatoren nichts begriffen. Sie dachten, befürchteten oder wünschten sich – je nachdem –, Berlusconi werde die Regierung als Reaktion auf seine Privatangelegenheiten zu Fall bringen. [...] Das hat er nicht getan, und zwar aus Verantwortungsbewusstsein, [...] aber vor allem auch weil er nicht den einzigen Schatz gefährden wollte, der ihm – nach seinen Kindern – wirklich wichtig ist: seine Wähler. Was wäre aus seinen zahlreichen Wahlstimmen geworden, hätte die PDL einen Beschluss gebilligt, der den Italienern in die Tasche greift? [...] Wir wissen nicht, was passieren wird, wenn Letta einmal gestürzt ist. Doch heute wurde uns eines bestätigt: Wer mehr Steuern will, ist mit Forza Italia [Berlusconis neuer-alter Partei] inkompatibel.

Der Cavaliere kündigte vor kurzem die Neugründung der Partei an, die bei den nächsten Wahlen anstelle der PDL kandidieren dürfte, da diese als zu undiszipliniert gilt. Denn, wie der Soziologe Ilvo Diamanti in La Repubblica erklärt,

...Berlusconi findet noch politischen Anklang und verfügt darüber hinaus über Macht in der Welt der Wirtschaft und der Medien. Und er nutzt sie – wenn nicht um seine eigenen Entscheidungen durchzudrücken, dann um die der anderen zu vereiteln. Ein Ultimatum nach dem anderen. Und vorher, um die Unstimmigkeit zu kontrollieren, die sich offen in seinen Rängen verbreitete. Deshalb hält Berlusconi stand. Bis zum Schluss. Weil er um sein – politisches – Überleben und das von Forza Italia kämpft. [...] Deshalb will er so schnell wie möglich neue Wahlen. Weil Berlusconis „Privatpartei“ seit ihrer Gründung 1994 bis zu den letzten Wahlen im Februar 2013 ihr Bestes immer bei den Parlamentswahlen gegeben hat. Deshalb macht er das politische Leben zu einer permanenten Wahlkampagne. Und heute braucht er, um den Drohungen von außen und den Spannungen innerhalb der Partei standzuhalten, neue Wahlen – so schnell wie möglich.

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