Titel: Die Abenteuer von Jean-Claude dem Furchtlosen. Auf seinem Schild: EZB

Was es ohne Trichet gekostet hätte

Für die einen ist er viel zu zögerlich, für die anderen mischt er sich zu sehr in Staatsangelegenheiten ein. Doch immerhin hat der Präsident der Europäischen Zentralbank den Euro bis jetzt am Leben erhalten und verhindern können, dass die Gemeinschaftswährung der Krise zum Opfer fällt.

Veröffentlicht am 6 Oktober 2011 um 14:07
Titel: Die Abenteuer von Jean-Claude dem Furchtlosen. Auf seinem Schild: EZB

Die Opportunitätskosten einer Entscheidung, das sind die Kosten, die entstehen würden, wenn man eine Entscheidung nicht oder eine andere treffen würde. Diese 1914 erfundene Reductio ad absurdum ist seit Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte1987, welche den Weg zum Gemeinsamen Markt ebnete, ab 1992 äußerst populär geworden. Vor allem dank des Berichts Paolo Cecchinis über die "Kosten der Nichtverwirklichung Europas".

Nach acht Jahren endet die Amtszeit des Präsident der Europäischen Zentralbank [EZB] und er wird heute [am 6. Oktober] voraussichtlich seine eigene Bilanz ziehen. Hoffen wir, dass er eine Senkung der Leitzinsen verkündet, da die Inflation mit 2 Prozent im Griff ist. Oder zumindest, dass er sie vorbereitet, damit sein Nachfolger Mario Draghi diese Entscheidung treffen möge.

Welches wären die Kosten ohne Trichet gewesen? Und welches werden die Kosten sein, sollte Mario Draghi dessen Erbe verpulvern?

Zwei große Fehler

Der Franzose hat zwei große Fehler gemacht. Den ersten, als er im Juli 2008 den Zinssatz anhob, nachdem die Inflation zu fallen begann, kurz vor der Katastrophe der Großen Rezession, welche von der Pleite von Lehman Brothers im September desselben Jahres ausgelöst werden sollte. Sein zweiter Fehler war seine schüchterne Politik beim Ankauf von Obligationen der peripheren Länder [Portugal, Spanien, Italien, Griechenland] — zweimal, Anfang März 2010 und im vergangenen August, als die Turbulenzen die Schuldendifferenz von Italien und Spanien im Vergleich zu Deutschland in die Höhe trieb. In beiden Fällen sündigte er im Namen der Orthodoxie.

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Dennoch muss man eingestehen, dass unter der Führung Trichets die EZB den Banken sehr viel Flexibilität im Cash Flow ermöglicht hat. Sie hat Zahlungsfristen verlängert und somit die völlige Lähmung des Finanzsystems verhindert. Sie hat auf dem Zweitmarkt Obligationen der peripheren Länder aufgekauft und damit bei einigen den völligen Zusammenbruch abgewendet.

Sie hat Staatsschulden und auch deren Gläubiger abgesichert, indem sie unsichere Anleihen von Banken akzeptierte, die bei ihr einen Kredit beantragten. Und schließlich führte sie drei mit den Zentralbanken koordinierte Aktionen durch, um Liquiditäten in Dollar in die europäischen Banken zu pumpen.

An der Heftigkeit der Reaktionen seiner Gegner wird man die Kosten messen können, hätte es keinen Trichet gegeben: die zwei wichtigsten Hauptvertreter der Radikalität, zwei Deutsche, sind in diesem Jahr zurückgetreten. Bundesbankpräsident Axel Weber, der als Nachfolger im Rennen war, ist über seine öffentliche Kritik am Kauf von Anleihen der gefährdeten Länder gestolpert. Sein Lob der Sparsamkeit (der Anderen) öffnete ihm aber die Bahn zum Goldenen Kalb.

Er wurde zum Präsidenten der Schweizer Großbank UBS: die menschgewordene lutherische Tugend! Der unsägliche Jürgen Stark tat es ihm gleich und machte sich aus denselben Gründen aus dem Staub. Beide kritisierten ihren Chef, weil er die Inflation nicht bremsen konnte... und sich zudem um die wirtschaftliche Stabilität und um das Wachstum sorgte. Offensichtlich ein Sakrileg.

"Eine relativ ambitionierte Währungspolitik"

Ein Wissenschaftler wie [der IWF-Ökonom] Pau Rabanal zögert hingegen nicht anzuerkennen, dass Trichet nicht nur "eine relativ ambitionierte Währungspolitik" verfolgt habe, sondern auch "sein Ziel der Inflationssenkung dem Wirtschaftswachstum und der Schaffung von Arbeitslätzen geopfert habe, und nicht umgekehrt."

Seine Zurückhaltung bei der Zinssenkung hat ihm darüber hinaus noch die Feindseligkeit mancher Politiker eingebracht, wie beispielsweise die des französischen Staatspräsidenten. Trichet verteidigte mit aller Entschiedenheit seine Unabhängigkeit gegenüber Nicolas Sarkozy, indem er sich für automatische Sanktionen im neuen Stabilitätspakt aussprach. Und gegenüber Angela Merkel schloss er hartnäckig eine Beteiligung privater Anleger bei der Rettung Griechenlands aus.

Wenn die Eurokrise Europa nicht alle Hoffnung genommen hat, dann deshalb, weil die EZB die Rolle des Darlehensgebers in letzter Instanz übernommen hat und als Schlichter fungierte, welcher von den Märkten respektiert wird. Trichet war einer der wichtigsten Schmiede des EU-Rettungsfonds. Er kritisierte auch scharf die "Abwertungs-Agenturen" und ist ein glühender Verfechter eines EU-Wirtschaftsministeriums. C’est déjà pas si mal! (js)

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