"Die Gerechtigkeit ist für alle gleich". Dieser Satz steht in sämtlichen italienischen Gerichtssäalen.

Das Land der zwielichtigen Wahrheit

Der Fall Amanda Knox ist nur ein Beispiel für die zahlreichen Schwächen der italienischen Justiz, die so gut wie nie unanfechtbare Urteile fällt, meint der britische Schriftsteller Tobias Jones.

Veröffentlicht am 6 Oktober 2011 um 16:23
"Die Gerechtigkeit ist für alle gleich". Dieser Satz steht in sämtlichen italienischen Gerichtssäalen.

Die ursprünglich für den Mord an der 2007 getöteten Meredith Kercherverurteilten Amanda Knox und Raffaele Sollecito haben das Berufungsverfahren gewonnen. Jedoch wird dieses Urteil ebenso sehr angezweifelt werden wie das erste. Unzureichende Beweismaterialien, die keinerlei Gewissheit erlauben und jeden Schuldspruch anfechtbar machen sind eine der vielen Schwachstellen der italienischen Justiz. Es ist nur allzu üblich, dass man sich die Tür für weitere Instanzen offen hält und sich vom Berufungs- zum Kassationsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof (Corte Suprema di Cassazione) schleppt. Fragt man die Öffentlichkeit, so steht es eigentlich immer unentschieden.

Das war schon immer so. Kaum ein legendäres Verbrechen aus der Nachkriegszeit konnte überzeugend aufgeklärt werden und den Leuten im Land den Eindruck vermitteln, dass die Justiz ihre Arbeit getan und die Gerechtigkeit gesiegt hatte: Der Mord am Dichter und Filmemacher Pier Paolo Pasolini [1975], der Flugzeugabsturz bei Ustica [1980, 81 Tote], die Bombenanschläge auf den Bahnhof von Bologna [1980, 85 Tote] und die Piazza Fontana [1969, 17 Tote], die Mordserie des Monsters von Florenz [1968-1985, 16 Tote], die Ermordung von Polizeikommissar Luigi Calabresi [1972], das "Verbrechen von Cogne" [bei dem 2002 ein dreijähriges Kind ermordet wurde]… Kein einziger dieser Fälle wurde jemals zufriedenstellend und überzeugend aufgeklärt. Vielmehr scheint sich das Land in jahrzehntelangen hitzigen Debatten in zwei Lager aufzuteilen: Die innocentisti und die colpevolisti (diejenigen, die an die Unschuld oder die Schuld der Angeklagten glauben)

Eigentlich steht es immer unentschieden

Dass der Knox-Prozess so viel Medienaufmerksamkeit auf sich gezogen hat, liegt aber nicht nur an "Foxy Knoxy", ihrer Attraktivität und ihrer angeblichen sexuellen Abenteuerlust. Auch liegt es nicht am so kosmopolitischen Charakter des Verbrechens und der Tatsache, dass ein ausländisches Opfer von einem ausländischen Täter ermordet wurde. Vielmehr liegt die Anziehungskraft des Ganzen – sollte dieser Ausdruck in dieser Angelegenheit überhaupt verwendet werden dürfen – darin, dass sowohl an der Anklage als auch an der Verteidigung genügend Zweifel bestehen. Italien wurde in zwei Hälften gespalten, was den Fall geradezu für Medienrummel, Debatten und Analysen prädestiniert. Schon jetzt hat der Fall Kercher mindestens elf Bücher und einen Film hervorgebracht.

Gerade weil die Gerichte keine überzeugenden Urteile fällen, ist die "Dietrologia" (wörtlich "das was dahinter steht" oder "Verschwörungstheorie") zum nationalen Volkssport geworden. So kann jeder Journalist, Richter und Kneipengast sich darin üben, der eigenen Phantasie freien Lauf zu lassen und die Wahrheit hinter diesen mysteriösen Fällen zu suchen. Zwangsläufig führt das vor allem dazu, dass sie von all diesen enthusiastischen Erklärungsversuchen nur noch mehr verschüttet wird. Indem sie den ganzen Zirkus in Gang halten, übernehmen die Medien dabei eine aktive Rolle: In keinem anderen Land sind die Abendnachrichten von so vielen cronache nere (Verbrechens- und Unfallmeldungen) gefüllt. Stets gibt es einen Fall aufzuklären. Zwischen 2005 und 2010 strahlten die sieben öffentlich-rechtlichen Sender allein in den Abendnachrichten 941 Berichte zum Mord an Meredith Kercher aus. 759 Reportagen beschäftigten sich mit dem Mordfall von Garlasco [2007], 538 mit der Ermordung des kleinen Tommaso Onofri [2006] und 508 mit dem Verbrechen von Cogne.

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Eine subtile Form des Vergnügens

Im Nachmittagsprogramm werden die einzelnen Umstände der Fälle oft stundelang in Talkshows diskutiert, in denen sich Sachverständige zu Wort melden und kurze Reportagen vor Ort aufklären sollen. Und weil diese Fälle meist nicht nur einen, sondern mehrere Prozesse durchlaufen, ähneln sie unendlichen Geschichten, so dass munter weiterspekuliert und der ganze Zirkus hemmungslos fortgesetzt werden kann. Diese Fälle sind so beliebt, weil sie "Angst schüren, gleichzeitig aber auch beruhigend wirken", schrieb ein Journalist kürzlich in La Repubblica. "Sie bewegen uns, ohne dass wir selbst wirklich davon betroffen sind. So als stehe man am Rande des Abgrunds und schaffe es im letzten Moment doch noch, einen Schritt zurückzumachen. Das löst Schwindelgefühle aus. Angstzustände. Aber eben auch Erleichterung. Eine subtile Form des Vergnügens".

Allerdings gibt es auch viel banalere Gründe dafür, dass die italienische Justiz es scheinbar nie schafft, wirklich Licht ins Dunkel zu bringen. Teilweise liegt das an der problematischen [italienischen] Meritokratie: In einem Land, in dem die Vergabe von Stellen grundsätzlich vielmehr auf Vetternwirtschaft beruht als auf wirklichen Kompetenzen, ist es wohl nicht zu vermeiden, dass die Ermittlungen lückenhaft sind und anständige Anwälte diese auch ausmachen. Weil es keine Geschworenen gibt (zumindest nicht in dem Sinne, in dem es sie bei uns gibt), ist ein faires Verfahren oft unmöglich. Zudem haben [die Italiener] keinerlei Sinn für Untersuchungsgeheimnisse: Die pikantesten Details werden der Presse stets zugespielt, bevor die Verhandlungen überhaupt begonnen haben. Niemand zweifelt wirklich daran, dass die Justiz dringend reformiert werden muss. Der Haken dabei ist, dass der Mann, der diese Reform unbedingt in Gang bringen muss (der Premierminister) zufälligerweise auch der Mann ist, der verzweifelt versucht, ihr zu entkommen.

Übersetzung aus dem Englischen von Julia Heinemann

Aus Sicht Italiens

Italienische Justiz: Nicht unfehlbar, aber respektabel

Die Entscheidung des Berufungsgerichts im italienischen Perugia, die das Urteil des Schwurgerichts von 2009 für nichtig erklärt, entfacht neue Diskussionen um die italienische Justiz und ihre Funktionsweise.

"Obwohl die Regeln eingehalten wurden und der Entscheidung nichts entgegengesetzt werden kann, handelt es sich für die italienische Justiz ganz sicher nicht um einen Sieg" schreibt der bekannte Anwalt Carlo Federico Grosso in La Stampa. Für ihn hat das Berufungsgericht richtig entschieden. Dem kann der Gefängnisexperte Riccardo Arena nur zustimmen. In Il Postspricht er von einem "gescheiterten Strafprozess" und wirft den Parteien vor, die Angelegenheit vier lange Jahre verschleppt zu haben, während der die Beschuldigten in Untersuchungshaft saßen.

Anders als das viel oberflächlichere angelsächsische Gerichtswesen berücksichtigt die italienische Justiz sowohl die Beweggründe als auch die Unschuldsvermutung, verteidigt der Jurist Vladimiro Zagrebelski das italienische Justizsystem in La Stampa. Dieses "System hat seinen Preis. Es bringt natürlich Fälle hervor, in denen Delikte unbestraft bleiben", aber es minimiert die Wahrscheinlichkeit, dass ein Unschuldiger verurteilt wird. Bedauernswert am Prozess in Perugia ist vor allem der große Druck seitens der Medien: "Mehrmals hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte angemerkt, dass der Lärm und die 'Presse-Urteile' die Richter, aber vor allem die Geschworenen beeinflussen und die Fairness des Verfahrens beeinträchtigen können. Das, was in Perugia geschah (und in Italien so oft passiert), ist Lichtjahre von einem angemessenen Klima entfernt."

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