Großer Aufbruch in Europa

Getrieben von der Wirtschaftskrise verlassen viele Europäer ihr Heimatland. Für junge Menschen aus dem Süden und dem Osten liegt die Zukunft derzeit im Norden.

Veröffentlicht am 14 Oktober 2011 um 15:52

Innerhalb eines Jahrhunderts sind die europäischen Staaten Auswanderungs- statt Einwanderungsländer geworden – sie haben sich in Aufnahmeländer verwandelt. Die Entwicklung der Industrie zog die Bevölkerung armer Länder magnetartig an. Zahlreiche Migranten kehrten dann wieder in ihre Heimatländer zurück, doch es waren ausländische Arbeitskräfte nötig, um den Mangel an Arbeitern zu decken.

Die letzten Aufnahmeländer wurden die südeuropäischen Länder, die insbesondere für die Rumänen ein beliebtes Ziel waren. Heute stehen letztere auf dem Arbeitsmarkt mit den arbeitslosen Einheimischen in Konkurrenz. Angesichts dieser Situation sowie der neuen Beschränkungen bei der Beschäftigung von Ausländern tendieren die Einwanderer aus dem Osten und die Einheimischen im Süden nun dazu, in Nordeuropa nach Arbeit zu suchen.

Europa hat früher schon massive Migrationsbewegungen erlebt: Von 1950 bis 1970 machten sich rund zehn Millionen Italiener, Griechen, Spanier und Portugiesen in die höchstentwickelten europäischen Länder auf. Nach 1973, als die demografischen Zahlen im Mittelmeerraum zurückzugehen begannen, öffneten die Mittelmeerstaaten den ausländischen Arbeitnehmern ihre Pforten. Der Richtungswechsel – mehr Immigration als Emigration – fand in den 80er Jahren statt. Die Migrationsströme kamen aus Nordafrika, später aus Mittel- und Osteuropa. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs beschleunigte sich der Vorgang.

Der Süden wandert nach Norden

Heute können Deutschland, Großbritannien und die nordischen Länder einen Ansturm ganz neuer Ausmaße erwarten, denn zusätzlich zu den Bevölkerungen mit großer Migrationstradition (Spanien, Italien, Irland und auch Griechenland) gibt es heute den enormen Druck aus dem Osten, allen voran die Rumänen. Rumänien wird auch einmal zum Immigrationsland werden, doch da wird es sich wahrscheinlich um Arbeiter aus Asien, dem Nahen Osten oder Afrika handeln.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Die letzten britischen Statistiken zeigen zudem eine ungewöhnliche Dynamik in den Verbindungen mit Spanien. Die Anzahl der Spanier, die im britischen Sozialversicherungssystem gemeldet sind, stieg im letzten Rechnungsjahr (April 2010 bis April 2011) um 85 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Zum ersten Mal gehörte Spanien zu den “Top Five” der Ursprungsländer der Immigranten in Großbritannien – nach Pakistan, Sri Lanka, Litauen und Irland.

Nach Angaben der spanischen Niederlassung der Zeitarbeitsagentur Adecco verließen zwischen 2008 und 2010 rund 110.000 Personen Spanien, mit einem Arbeitsvertrag in Aussicht. Im selben Zeitraum stieg dort die Arbeitslosenquote über 21 Prozent. Mehr als 4,2 Millionen Menschen sind ohne Arbeit. Eine bedeutende Erhöhung wurde auch bei den Italienern verzeichnet: Im März 2010 wurden 60.000 Lebensläufe an Eurostat geschickt, im September 2011 waren es knapp 90.000.

“One-Way-Tickets” war gestern

Die Migration in Form des “One-Way-Tickets”, als sich der Italiener oder der Ire für die Vereinigten Staaten einschiffte und dort bis zu seinem Lebensende blieb, gibt es nicht mehr. Heute wandert sie weiter, von einem Land zum nächsten, je nach Lage des Arbeitsmarkts. Die Migranten teilen sich den Markt stillschweigend auf, nach Zumutbarkeit und Beschwerlichkeit der Arbeit. Es gibt also einen wesentlichen Unterschied zwischen den spanischen Emigranten und den Rumänen.

Letztere werden als “Erdbeerpflücker” bezeichnet, weil sie meistens in der Landwirtschaft des Aufnahmelands arbeiten und die am wenigsten qualifizierten Stellen besetzen. Die Spanier hingegen, so Professor Miguel Pajares, Professor an der Universität Barcelona, “gehen in Länder, in denen sie fachlich anspruchsvolle Stellen finden. Der Unterschied zwischen den Rumänen und den Spaniern ist weniger die Kompetenz als vielmehr die Akzeptabilität” der verschiedenen Arbeitsplätze.

In Irland verlassen derzeit mehr Einwohner das Land als Immigranten kamen, als es noch der “keltische Tiger” war. Im letzten Rechnungsjahr, April 2010 bis April 2011, verließen über 40.000 Iren die Insel, während 36.000 Einwanderer eintrafen. “Die Krise ist im Ausland leichter zu ertragen”, erklärt der rumänische Professor Dumitru Sandu, ein Spezialist in Migrationsfragen. Die Migrationstendenz von heute wird sich aufgrund der Krise und der Rezession in Europa halten. Zumal die Länder, die der EU 2004 beigetreten sind, die Übergangszeit von maximal sieben Jahren überschritten haben, die ihnen ein Mitgliedsstaat auferlegen kann, um seinen Arbeitsmarkt zu schützen. Der letzte Termin war der 1. Mai 2011, für Polen, die Tschechische Republik, Ungarn, Estland, Lettland, Litauen, Slowenien und die Slowakei.

Fremdenfeindliche Wahlkämpfe

Nach Spanien und Frankreich, die neue Arbeitsmarktbeschränkungen gegen die Rumänen eingeführt haben, kündigten mehrere Staaten neue Gesetzesänderungen an, um die Immigration zu reduzieren. Unter dem Vorwand, die lokalen Arbeitsplätze zu erhalten, wird der Zugang der Immigranten zum Arbeitsmarkt also blockiert, ein bisschen wie eine Vorkampagne für die Wahlen, die in mehreren dieser Länder im Lauf des Jahres 2012 abgehalten werden. “Es geht nicht einmal so sehr um wirtschaftliche Gründe, sondern um Verstöße gegen die demokratischen Grundsätze der EU, welche hier ignoriert wurden”, erklärt Catalin Ghinăraru vom rumänischen Institut für Arbeitsforschung.

Jedes Mal, wenn sich die Wirtschaft der Zielländer verkrampft, tauchen Ablehnungsverhalten gegenüber den Immigranten auf. Und zwangsläufig steht die größte Gruppe unter ihnen im Visier. So sind die Rumänen das Ziel mehrerer Kampagnen in diesem Sinn. In Spanien zum Beispiel hat die Volkspartei diesen Herbst Wahlplakate mit dem Slogan “No queremos rumanos” [“Wir wollen keine Rumänen”] angeschlagen. Trotzdem kehrt nur eine kleine Minderheit der Rumänen in die Heimat zurück, wie eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung über die Folgen der Wirtschaftskrise auf die Migration rumänischer Arbeitnehmer zeigt: Nur fünf Prozent aller Emigranten sind zurückgekommen, und das nur für kurze Zeit. Danach wandern sie wieder aus, in andere Länder. (pl-m)

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema