Russische Panzer verlassen Südossetien, 24. August 2008 (AFP)

EU, schüchterner Friedensrichter

Ein am 30. September veröffentlichter europäischer Bericht macht Georgien für den Kriegsausbruch im August 2008 und die darauffolgenden Kampfhandlungen mit Russland verantwortlich. Angeklagt wird aber auch Moskau, dem man Provokationen und unverhältnismäßige Reaktionen vorwirft. - Zwiespältige Schlussfolgerungen, die viele Fragen unbeantwortet lassen, meint die europäische Presse.

Veröffentlicht am 1 Oktober 2009 um 14:41
Russische Panzer verlassen Südossetien, 24. August 2008 (AFP)

Der russisch-georgische Krieg dauerte vom 7. bis 12. August 2008 und endete mit der Niederlage Georgiens und der Ausrufung der Unabhängigkeit seiner zwei separatistischen Gebiete (Südossetiens und Abchasiens, dessen 1992 ausgerufene Unabhängigkeit 2008 anerkannt wurde). Seitdem schieben sich Russland und Georgien die Schuld an dem Krieg gegenseitig in die Schuhe. Ein von der Europäischen Union in Auftrag gegebener Untersuchungsbericht, der eigentlich beide Seiten beschwichtigen sollte, sollte die Ursprünge des Konfliktes erforschen. In dem gerade veröffentlichten Text wird Georgien beschuldigt, den Krieg gegen Russland ausgelöst zu haben. Aber auch Moskau wirft man Provokationen vor, welche die Spannungen unnötig verstärkt haben. Weiterhin bestätigt der Bericht, dass georgische Bürger Opfer ethnischer Säuberungen wurden. Zudem lehnt er alle Rechtfertigungsversuche Russlands für seinen Überfall auf Georgien ab.

Teures, salomonisches Urteil

Über 1,5 Millionen Euro. Das ist der Preis, der gezahlt wurde, damit wir nun endlich wissen, dass es Russland war, welches die Kaukasusregion im August 2008 in Brand steckte, Georgien aber am Ausbruch des Krieges in Ossetien die Schuld trägt, bemerkt Dziennik Gazeta Prawna ironisch. "Dass der Bericht der EU so teuer war und erst so spät veröffentlicht wurde, hat einen ganz besonderen Grund: Die Union wollte nichts erklären, sondern vielmehr beide Parteien beschwichtigen."

Im Sommer hatte der Spiegel die Schlussfolgerungen des von der EU in Auftrag gegebenen Berichtes veröffentlicht. Verheerend waren diese für die georgische Regierung. Sehr schnell stellte sich aber heraus, dass einige der Experten der Kommission vom russischen Gasriesen Gazprom bezahlt wurden, berichtet die Warschauer Tageszeitung. Also ernannte man neue Experten, darunter auch Polen. Einer von ihnen verriet der DGP, dass das neue Team den Auftrag hatte, Georgien von den Anschuldigungen der alleinigen Verantwortung zu befreien. Genau das ist auch eingetreten. Georgien verübte an den Osseten keinen Genozid, sondern führte militärische Operationen durcht, die allerdings mit dem geltenden internationalen Recht unvereinbar sind, schlussfolgern die Experten. "Opportunismus? Nein! Geopolitische Strategie", schreibt die DGP und betont, dass die EU damit ein salomonisches Urteil fällt. "Georgien die alleinige Schuld zu geben hätte den Druck auf das Land nur noch verstärkt. Russland hingegen zum einzigen Schuldigen zu machen hätte Lügen bedeutet", urteilt die Tageszeitung.

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Der Westen braucht Russland. Nicht Georgien.

Alles andere als überraschend findet der Kolumnist Zbyněk Petráček der Lidové Noviny die Ansichten der unter der Schirmherrschaft von Heidi Taglavini stehenden Experten. "Die Spezialisten haben keineswegs die politische Bedeutung und die Machtspielchen untersucht, welche die ganze Angelegenheit ausmachen. [...] Sie haben einfach nicht danach gefragt, warum die Partei A auf die Partei B geschossen hat, sondern nur die Frage gestellt, wer zuerst geschossen hat." Petráček ist davon überzeugt, dass Brüssel vergisst, dass Russland es war, welches Georgien provoziert hat, indem es damit anfing, russische Pässe an die Bewohner Südossetiens zu verteilen.

"Unter der gegenwärtigen Führung wäre das Land ein Sicherheitsrisiko für das gesamte [Nato-] Bündnis", schätzt die Frankfurter Rundschau ihrerseits. "Am ehrlichsten wäre es, die Beitrittszusage für Georgien zurückzunehmen" [2008 versprach man Georgien dies auf dem Gipfel in Bukarest]. "Saakaschwili sollte für den Westen künftig ein Gesprächspartner aus der Kategorie des Afghanen Hamid Karsai sein. Den akzeptiert man, so lange es keinen Besseren gibt." Wie die USA es kürzlich formulierten ist Moskau in Sachen internationale Beziehungen einfach ein unentbehrlicher Partner. "Das ist der entscheidende Unterschied: Auf Russland ist der Westen angewiesen, auf Georgien aber nicht", schreibt die deutsche Tageszeitung.

Der die Behauptung von Michail Saakaschwili widersprechende Bericht der EU kränkt den georgischen Präsidenten zutiefst. Schließlich hatte dieser bis zuletzt behauptet, dass seine Offensive ein einziger Akt der Notwehr gewesen und dadurch vollkommen gerechtfertigt sei. "Der Kaukasus ist ein viel komplexeres Gebilde, als wir das für möglich halten. Die Schnelligkeit, mit welcher der georgische Präsident Michail Saakaschwili sich freiwillig vor die Kameras der CNN gestellt hat, verleiht ihm noch lange keine Begabung als Demokrat", kommentiert der Guardian die Situation in seinem Leitartikel. "Dieser Bericht müsste diejenigen dazu bringen, mehr Vorsicht walten zu lassen, die voreilig über die Beziehungen zwischen Russland und seinen Nachbarn urteilen."

Beide Seiten verletzten das Völkerrecht

"Das, was man eigentlich hätte verhindern können, hat sich in einen erbitterten Blitzkrieg verwandelt, der nicht nur die Karten vor Ort neu gemischt, sondern auch die Beziehungen zwischen der westlichen Welt und Russland verändert hat", fasst Heidi Tagliavini, die Präsidentin der Expertenkommission die Lage in den Spalten von El Pais zusammen. Sie bedauert, dass die internationale Gemeinschaft nicht mehr Initiativen ergriffen hat, um auf eine Situation zu reagieren, die schon vor 2008 mehr als beunruhigend war. Damals bezeichnete man die Lage als "tödliche Spirale von Konfrontationen". Sie ist davon überzeugt, dass der Krieg sich vor allem dadurch erklären lässt, dass die beteiligten Parteien die Grundlagen des internationalen Rechtes und die Menschenrechte völlig ignorieren. Und "auch wenn es richtig ist, dass Georgien die Feindlichkeiten angezettelt hat […], so haben doch beide Lager […] das internationale Recht verletzt", schreibt sie in einem Artikel mit folgendem Titel: "Georgien, die verpasste Gelegenheit".

Die Europäische Union hat die Schuld auf beide Akteure gleichmäßig verteilt, "Seine eigene Rolle blendet Europa aus", meint derTagesspiegel. Er erinnert an die monatelang andauernden Provokationen und die zunehmende Nervosität in der Region. "Umso mehr müssen sich die Europäer fragen lassen, warum sie nicht früher gehandelt haben. Erinnern wir uns: Nach fünf Tagen schaffte es Frankreich, einen Waffenstillstand zwischen den Konfliktparteien auszuhandeln. Hätte ein ähnlich beherztes Eingriffen im Vorfeld den Krieg vielleicht sogar verhindern können", fragt sich die Berliner Tageszeitung.

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