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Tony Blair, inoffizieller Kandidat für den Posten des EU-Präsidenten. (Bild: Presseurop)

Warten auf Washington

Das irische Ja zum Vertrag von Lissabon lässt die Spekulationen über den zukünftigen Präsidenten der Europäischen Union wieder aufflammen. Doch die 27, die es immer noch nicht fertig bringen, aus einem gemeinsamen Munde zu sprechen, haben den Retter, der Europa verkörpern soll, noch lange nicht gefunden, so Arnaud Leparmentier in Le Monde.

Veröffentlicht am 6 Oktober 2009 um 15:23
Tony Blair, inoffizieller Kandidat für den Posten des EU-Präsidenten. (Bild: Presseurop)

Schauplatz: Pittsburgh, während des G20-Gipfels. Der Brite Gordon Brown preist das Keynessche Belebungskonzept und Kanzlerin Angela Merkel zankt sich mit ihm, weil er von Deutschland weniger Handelsüberschüsse und mehr Inlandsverbrauch fordert. Nicolas Sarkozy wiederholt seine Schmährede gegen die Banker, während der Italiener Silvio Berlusconi seinen Monolog gegen die Erdölspekulation herunterleierte. Schließlich ergreift der Niederländer Jan-Peter Balkenende, der – wie Spanien – nur eine untergeordnete Rolle spielt, zu jedem Thema das Wort. Jedem seine Marotte: Die Europäer, die mit der Kommission und dem schwedischen EU-Vorsitz acht Sitze beim G20 innehatten, trugen eine mehrstimmige Katzenmusik vor. Aus der Sicht von Washington oder Peking ist das alles nicht so wichtig: Wenn sich nichts ändert, dann wird der G20 recht bald auf einen G2 zusammenschrumpfen, bei welchem der amerikanische und der chinesische Präsident die Geschäfte des Planeten unter sich abmachen.

Kann man sich denn nach dem irischen Ja zum Vertrag von Lissabon überhaupt vorstellen, dass die Europäer eines Tages wie aus einem Munde sprechen, um auf den Lauf der Welt einzuwirken? Das war der Traum von Valéry Giscard d’Estaing, der in den Vertrag den "ständigen" Präsident des Europäischen Rates einsetzen ließ: ein auf zweieinhalb Jahre ernannter Präsident soll die Union international vertreten. "Europa muss sich seinen George Washington suchen und erfinden", empfiehlt Giscard d’Estaing.

Geburt eines dreiköpfigen Ungeheuers

Entgegen einem hartnäckigen Gerücht wird die vom Vertrag von Lissabon vorgesehene Neuorganisation die Funktionsweise der Union nicht vereinfachen: Sie wird ein dreiköpfiges Ungeheuer zur Welt bringen, das Europa noch unregierbarer macht. "George Washington" muss dann mit dem Vorsitzenden der Kommission zusammenarbeiten, der um seine Handels-, und Haushaltsprärogativen besorgt ist, und mit dem Außenminister, der den diplomatischen Dienst fest in der Hand hat. Und keiner der Großen Europas kann sich vorstellen, seinen Sitz – beim G20, beim moribunden G8, beim IWF, beim UN-Sicherheitsrat – zugunsten einer gemeinsamen Repräsentation aufzugeben.

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Nur eine charismatische Persönlichkeit könnte dieses Europa föderieren, das an eine der Städte aus der griechischen Antike oder der italienischen Renaissance erinnert: der Ausgrenzung geweiht, durch ihre Unfähigkeit, sich gegenüber einer im Wandel begriffenen Welt zu vereinen. Doch wenige glauben an den vom Schicksal gesandten Präsidenten, wenn sich die 27 beeilen, den sehr zögerlichen José Manuel Barroso an der Spitze der Kommission zu bestätigen.

Mann aus dem Hintergrund oder starke Persönlichkeit?

Die dem ständigen Präsidenten des Europäischen Rates zufallende Rolle ist voraussichtlich auch eher beengt. Nicolas Sarkozy gedenkt, eine starke Persönlichkeit durchzudrücken, doch er unterstützt einen umstrittenen Mann von gestern: den ehemaligen britischen Premier Tony Blair, der den Irakkrieg in Gang brachte und ein bankrottes Finanzmodell erfand. Er scheint aufgegeben zu haben. Frau Merkel will einen Mann aus dem Hintergrund, der nicht etwa das Gesicht Europas wäre, sondern der Sekretär der Staats- und Regierungschefs. Der Name des wenig EU-begeisterten Balkenende macht die Runde, doch auch ein finnischer Euro-Enthusiast wäre als Kandidat denkbar.

Mangels einer Eingebung baut Sarkozy darauf, die Schwächen dadurch auszugleichen, dass er seine Entente mit Angela Merkel in den Vordergrund stellt: Sind nicht sie beide die charismatischen Anführer Europas, jetzt wo London nicht mehr im Rennen liegt? Brown ist am Ende, und sein wahrscheinlicher Nachfolger, der Konservative David Cameron, schließt sich durch seinen Euroskeptizismus selbst aus. Paris und Berlin haben sich also einen Ministeraustausch ausgedacht, ein Protokoll im Rahmen des Elysée-Freundschaftsvertrag, eine Zeremonie mit Prunk und Pomp zur Feier des 20. Jubiläums des Mauerfalls. Was könnte natürlicher sein als dass die beiden Staatsoberhäupter beim G20 Hand in Hand vorgingen und auch in der Klimafrage beabsichtigten, dasselbe zu tun.

Die Illusion der deutsch-französischen Entente

In Wirklichkeit werden sich Franzosen und Deutsche entzweien, sobald die explodierenden Staatsschulden den Euro bedrohen. Trotz der Rezession verzeichnet Deutschland ein Defizit, das kaum 3% über seinem Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt – ein von Frankreich sogar in der Hochkonjunktur nur mühsam erreichtes Niveau. Die beiden Länder werden sich täglich fremder: Deutschland, das nunmehr einen geringeren Teil seines Budgets für Sozialausgaben aufwendet, will sein Produktivitätsrennen weiterführen. Sarkozy, der Mann, der die Austerity-Politik ablehnt, ist Präsident des Landes mit den weltweit höchsten Staatsausgaben vor Schweden.

In der Industrie wollen die Deutschen ihren Alleingang beibehalten und verweigern jegliches Baukastenprinzip "à la française" [vom Staat dominierte Industriepolitik, siehe Siemens-Ausstieg bei Areva]. Ganz allmählich sucht jeder außerhalb der Union seine neue Grenze. Deutschland verhandelt mit Russland und seinen chinesischen Kunden, während die Verfassungsrichter und die Öffentlichkeit jegliche zusätzliche Integration verweigern. Sarkozy ent-europäisiert seine Politik schrittweise, indem er auf jedem Kontinent Bündnisse schließt, mit Brasilien, Ägypten, den Emiraten oder Indien.

Somit ist die einzige Gewissheit, die aus dem Ja zu Lissabon entsteht, die Wiederaufnahme des Erweiterungsprozesses. Dies wurde von Kroatien begrüßt. Die Türkei-Akte, die seit drei Jahren leise tritt, wird wieder aufgenommen werden. Zweifellos handelt es sich, zum Missfallen des Herrn Sarkozy, um das einzige politische Projekt, das in Europa wirklich läuft.

KANDIDATEN

Tony Blair, der ungewisse Favorit

Der Posten des EU-Präsidenten, der besetzt werden muss, wenn der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt, ist das aktuelle Gesprächsthema in Brüssel und in den europäischen Hauptstädten. "Tony Blair gilt immer mehr als Favorit in einem Rennen, das offiziell keine Kandidaten hat", berichtet die Financial Times, obwohl die deutsche Kanzlerin von diesem Gedanken nicht begeistert zu sein scheint.

Doch die Tageszeitung sieht noch andere Anwärter auf den Posten. Der niederländische Ministerpräsident Jan Peter Balkenende soll von Merkel unterstützt werden. Der ehemalige finnische Premier Paavo Lipponen könnte ein Kompromisskandidat sein. Und der ehemalige Ministerpräsident der spanischen Regierung, Felipe González, der mit einer Reflexion über die Zukunft der EU beauftragt ist, wäre dann noch eine entfernte Möglichkeit.

ABC hingegen nennt als eventuellen Kandidat den französischen Premierminister François Fillon. Doch die spanische Tageszeitung meint auch, es würde Nicolas Sarkozy nicht gefallen, "von seinem ehemaligen Premierminister bei den europäischen Gipfeln dirigiert zu werden". Für den Posten des Hohen Vertreters der EU, "der sicher von einem linken Kandidat besetzt wird", so die Zeitung, wäre Frank-Walter Steinmeier, bald ehemaliger deutscher Außenminister, "der bestplatzierte Kandidat, selbst wenn seine Gegner behaupten, er könne kein englisch".

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