Eine Medaille, ausgehändigt an neue britische Staatsbürger in London, 2007 (AFP)

"Staatsbürgerschaft", ein Begriff im Wandel

Schwindende Grenzen und Forderungen einer starken russischen Minderheit: Estland stellt seine Definition des „gemeinsamen Miteinanders“ in Frage. Fragen, die sich alle europäischen Länder werden stellen müssen, nicht zuletzt um sich mit dem Migrationsphänomen auseinanderzusetzen.

Veröffentlicht am 7 Oktober 2009 um 16:33
Eine Medaille, ausgehändigt an neue britische Staatsbürger in London, 2007 (AFP)

Am 1. Oktober erklärte der estnische Justizminister vor dem Parlament Estlands, sein Land zu sei zu ethnozentrisch und es wäre an der Zeit, die Prinzipien und die Philosophie des Staates Estland zu überdenken. Er meinte, dass man in staatsbürgerlichen Kriterien denken solle. [In Estland unterscheidet man zwischen estnischen und nicht estnischen Staatsbürgern]. Seit den Krawallen vom April 2007 [es kam zu Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten der russischen Minderheit, als der "Bronzene Soldat", ein sowjetisches Kriegerdenkmal abgebaut wurde] hat Estland aktiv versucht, die junge Generation der nicht estnischen Bevölkerung in die Gesellschaft zu integrieren.

Doch als sich die Aufregung in der Bevölkerung wieder gelegt hatte, traten andere heißere Fragen als der soziale Zusammenhalt wieder in den Vordergrund. Abgesehen vor ein paar Gesetzesvorlagen, wurde das Thema vom Ministerium für Bevölkerung [das diesen Sommer aufgelöst wurde] behandelt, ohne weiter in der Gesellschaft Wellen zu schlagen. Deshalb sind die Vorschläge des Justizministers zu begrüßen, denn sie stellen erneut die Frage nach der estnischen Staatsbürgerschaft. Mit seinen Vorschlägen verteidigt der Justizkanzler Teder einen kosmopolitischen Standpunkt, der im heutigen Estland nur wenig Anklang findet. Es ist heute eher politisch korrekt, vom Nationalstaat und vom estnischen Nationalstolz zu reden als vor den Gefahren eines ethnozentrischen Staates zu warnen.

Verschiedene Definitionen von "Nationalstaat" und "Staatsbürgerschaft"

In Europa wird der Begriff ‚Nationalstaat’ sehr unterschiedlich aufgefasst. Im alten Europa vertritt man generell eher den Standpunkt, dass jeder Mensch, der in einem Land lebt und dessen Sprache spricht, als gleichberechtigtes gesellschaftliches Mitglied betrachtet werden sollte. Aufgrund ihrer Vergangenheit haben die jungen europäischen Länder eine eher ethnozentrische Auffassung, da sie über 50 Jahre vom Prozess der Auflösung der Grenzen innerhalb Europas ausgeschlossen waren. Für uns ist das alles noch Neuland. Wenn ein Staat eher von 'Staatsbürgerschaft' als von 'Nationalität' redet, ist das ein Zeichen der politischen Reife einer Gesellschaft.

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Den Weg einer kohärenteren "bürgerzentrierten" Gesellschaft einzuschlagen, wie es der estnische Justizminister vorschlug, ist wahrscheinlich unausweichlich. Es ist nicht möglich, dass man im 21. Jahrhundert die Nationale Frage mit den Augen des 19. Jahrhunderts behandelt. Die Frage ist nur, ob dieser Prozeß auf staatlichem Niveau gelenkt werden wird, oder es erst wieder zu neuen Unruhen in der Gesellschaft kommen muss wie 2007. Es ist klar, dass es weise wäre, den Prozeß in Angriff zu nehmen, solange der Staat fähig ist, ihn zu kontrollieren, anstatt abzuwarten und vielleicht alles zu verlieren.

MEINUNG

Migration erfordert Neudefinition von Staatsbürgerschaft

Das globalisierte Migrationsphänomen "beeinflusst das gemeinsame Miteinander, also anders gesagt, die Definiton darüber, was ein Bürger ist", meint Catherine de Wenden vom Centres d'études et de recherches internationales in Paris. "Im Unterschied zu den USA, zu Kanada und Australien, die ihren Bürgerbegriff in den 60er Jahren neu definierten", sind die europäischen Staaten "erst seit kurzem mit einer multikuturellen Gesellschaft konfrontiert", erklärt die Forscherin in einem Interview der Tageszeitung Le Monde. Lange Zeit war Europa eine Region der Aussiedler. Es hat folglich "Schwierigkeiten sich als ein Immigrationskontinent zu verstehen" oder gar als ein Besiedlungsgebiet. Da aber heute die Immigration einen beachtlichen Teil der europäischen Bevölkerung stellt, ist es dringend erforderlich, dass man einen offiziellen Migrantenstatus schafft.

"Für die Länder ist es ein Gewinn, wenn Migranten einen Status haben, Sozialabgaben leisten, konsumieren und ihren Verwandten Geld schicken." Des Weiteren sei es angebracht, ein universelles Anrecht auf Mobilität zu schaffen, denn für viele Migranten -wie auch für viele qualifizierte Arbeitnehmer aus reichen Ländern- gehört Mobilität zum Lebensstil. "Der große Verlierer der Mobilität ist der Staat, der auf die Hoheitsgewalt über seine Grenzen besteht und sich über eine nationale Identität definiert", stellt die Forscherin fest. Tatsächlich stößt das Prinzip Mobilität immer noch auf den Widerstand der Regierungen, die das Immigrationsproblem einzig unter den Sicherheitsaspekt betrachten. "Man kriminalisiert Migration, anstatt wirtschaftlich und sozial zu denken", beteuert Catherine de Wendel.

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