Mario Monti, das Wundermittel

Die Unsicherheit, die dem angekündigten - aber bisher nicht vollzogenen - Rücktritt Silvio Berlusconis folgte, lässt das Gespenst von einem Zahlungsausfall Italiens umgehen, das die Eurozone endgütlig zu Fall bringen wird. Die einzige Lösung, die Italiens Präsident gestern andeutete, scheint eine schnelle Regierungsbildung zu sein unter der Führung des ehemaligen EU-Kommissars.

Veröffentlicht am 10 November 2011 um 16:07

Um sieben Uhr Abend spielte Staatspräsident Giorgio Napolitano die Reservekarte aus, die prestigeträchtigste, die er schon länger in petto hatte: Mario Monti. Nach dem dramatischen Tag gestern [8. November 2011], dem für Italien furchtbarsten seit der Krise der Lira 1992, war eine deutliche Reaktion notwendig, ein Signal, das gleichzeitig Wundermittel und Warnung ist.

Ein Wundermittel gegen den Zusammenbruch unseres Systems und eine Warnung an die Politik: Die Frist ist um, keine Zeit mehr für Verlängerungen, Vorbehalte, Aufschübe oder Spiel mit verdeckten Karten. Märkte, Analysten, aber auch Medien aus aller Welt schrien auf, und das mit beeindruckender Schärfe und Bestimmtheit – sie erklärten, Italiens Glaubwürdigkeit sei fast völlig dahin, und Rettung läge einzig und allein in einem völligen Neubeginn.

Monti, Kapitän im Sturm der Finanzkrise

Nun ist Mario Monti kein [reiner] Experte mehr [als Mitglied einer Expertenregierung, die u. a. angedacht ist, Anm. d. Ü.], sondern Senator auf Lebenszeit, dessen Ernennungsdekret von Silvio Berlusconi gegengezeichnet ist, der die Entscheidung beglückwünschte – Monti ist also die geeignete Lösung, auf die das Parlament bauen kann, wenn es den politischen Rahmen für eine neue Regierung absteckt.

Die Bedeutung der gestern Abend getroffenen Entscheidung ist wohl noch etwas ungewiss und Neuwahlen noch nicht ausgeschlossen, doch sie ist richtungsweisend und gibt einen Anstoß für die Parteien, Verantwortung zu übernehmen und Italien klar und deutlich zu sagen, wie sie nun vorgehen wollen, ohne taktische Spielchen oder Tricks.

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Der gestrige Sturm in der italienischen Finanzwelt, der laut vielen Analysten einen Punkt erreicht hat, von dem es kein Zurück mehr gibt, hat die Börsen in aller Welt angesteckt und die Kurse gedrückt, Rentenfonds und erfahrene Spekulanten in Panik versetzt – und das alles aufgrund unserer alten Sünden.

Rätselhaftes, haarspalterisches Verhalten

Einige waren gestern Vormittag erstaunt über die weltweiten Reaktionen, hatten wir es doch Spanien nachgemacht: Rücktritt des Premiers, Parlamentsdebatte zwischen Regierung und Opposition über die notwendigen, von Europa geforderten Maßnahmen, garantierte Neuwahlen. Warum fand nun Spanien unter Zapatero schnell einen Ausweg aus der Misere, während wir immer mehr auf die Katastrophe zurasten? Weil wir uns in rätselhaftem, haarspalterischem Verhalten geübt haben, das unsere Entscheidungen unverständlich machte.

Versetzen Sie sich in einen ausländischen Investor, Journalisten, Diplomaten oder Analysten hinein, und Sie werden verstehen, warum sie es alle nicht verstanden und panisch reagiert haben. Zapateros Rücktritt ging gleichzeitig mit der Rücktrittsankündigung über die Bühne, während wir den "Rücktritt auf Raten" erfunden haben, von dem wir nicht wissen, wann er letztlich stattfinden wird, und der auch nirgends schriftlich festgehalten und beschlossen wurde. Dann war da noch der umfassende Änderungsantrag zum Stabilitätsgesetz, in dem die Forderungen Europas umgesetzt werden sollten – schade nur, dass gestern Vormittag niemand seinen Inhalt kannte und nicht einmal dem italienischen Präsidenten die Ehre zuteilwurde, ihn zu lesen.

Schließlich ist da der Zeitpunkt der Neuwahlen. Spanien setzte ihn sofort fest, in Italien wusste man nur, dass es erst nach Berlusconis Rücktritt – angeblich irgendwann Ende des Monats – zu Beratungen kommen würde, die ein völlig unterschiedliche Ergebnisse bringen können: Expertenregierung, Wahlen, Frontwechsel, erneute Regierung unter dem PDL [Berlusconis Partei "Popolo delle Libertà"], kurz: ein undurchschaubares Rätsel.

Noch gestern Vormittag war unsere Politik begeistert ihren alten Riten verfallen und bereit, sich dem ewigen Spiel der Verhandlungen und Meinungsaustäusche hinzugeben – sie suchte also abermals auf Kosten Italiens ihren eigenen Vorteil. Napolitanos taktischer Zug machte aller Strategie und allem Taktieren ein Ende, sodass uns nun alle im Bewusstsein um den Ernst des Problems beweisen müssen, wer sie sind und wozu sie fähig sind. Übersetzung aus dem Italienischen von Salka Klos

Schuldenkrise

Griechenland-Syndrom geht auf Italien über

Der angekündigte Rücktritt von Silvio Berlusconi hatte nicht den gewünschten Effekt auf die Finanzmärkte. Diese schicken sich an, Italien einer "Schocktherapie" auszusetzen, wie man auf der Titelseite des Handelsblattes lesen kann. "Die Rendite der zehnjährigen italienischen Staatsanleihen erreichte gestern [am 9. November] mit 7,46 % ein neues Rekordhoch. Im Grunde kommt ein solcher Risikoaufschlag einer Zutrittsverweigerung zum Kapitalmarkt gleich", schreibt die Wirtschaftszeitung. Das Signal der Investoren, die weiterhin die Finanzierung des italienischen Staates aufrechterhalten, ist eindeutig: "Die Probleme des Landes sind größer als das Problem Berlusconi". Wenn Italiens Staatsanleihen ab jetzt mit 8 % anstelle von 5 % verzinst werden müssen, wird die Zinslast in den nächsten 10 Jahren auf 635 Milliarden Euro anwachsen. Nach Einschätzung des Handelsblatts wäre dies "erdrückend".

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