Grenzstein zwischen Europa und Asien, zwischen Vorkouta und Salekhard (Russland). Foto: Licak

Welche Grenzen für Europa?

Die Entwicklung der politischen Situation am geographischen Rand der EU sollte die Union dazu zwingen, ihre Grenzen ein für alle Mal zu definieren, meint der Geopolitiker Michel Foucher in Le Monde. Es gehe dabei u.a. um die Türkei, über die die Kommission heute ihren jährlichen Bericht vorlegt.

Veröffentlicht am 14 Oktober 2009 um 15:37
Grenzstein zwischen Europa und Asien, zwischen Vorkouta und Salekhard (Russland). Foto: Licak

Bis in die Jahre 2004-2007 waren die als definitiv angestrebten Grenzen der EU, die mentale Europakarte, über die gar nicht diskutiert werden musste, ein offenes Geheimnis. In Brüssel wie in anderen Hauptstädten verstand es sich von selbst, dass die territoriale Expansion der EU fortgeführt werden müsse bis der gesamte Kontinent dazugehöre, einschließlich Russlands. Anders gesagt bis zur Übereinstimmung der Grenzen der EU mit denen des Europarats, der einzigen europäischen Institution, die ihr Territorium schon 1994 klar definierte.

Dieses maximale Erweiterungs-Szenario entspricht der Vorstellung, die sich alle bisherigen Regierungen der USA über die künftige Organisation Europas machten. Bemerkenswert ist die Kontinuität des amerikanischen Europa-Projekts, von Clinton bis Obama. Letzterer bestätigte erst kürzlich mit seiner Ankara-Rede die Position, die vor ihm schon George W. Bush vertrat.

Aus der Sicht von Brüssel, muss man zugeben, dass die Beitrittsperspektive als Ankurbelung von Reformen funktioniert. Die volle Übernahme des Acquis communautaire (des "gemeinschaftlichen Besitzstands") hatte eine Modernisierung zur Folge wie sie ehedem der napoleonischen Code Civil hervorrief. Genau hier liegt der Schlüssel zur Einflussnahme der Institution Europa. Die Gründe dafür liegen in den bewilligten finanziellen Mitteln, in der möglichen Anerkennung als Nation, sowie in den Aufstiegsmöglichkeiten der Eliten der neuen Mitglieder aufgrund der Gleichberechtigung aller Mitgliedsstaaten innerhalb der europäischen Institutionen.

Das alles ist ebenso ein Faktor für staatliche Souveränität und für erweiterte Sicherheit, denn es liegt im nationalen Interesse des einzelnen Staates, dass der Nachbar demselben Club angehört —von Ost-Balkan ausgenommen. Und: Verbalen nationalistischen Ausfällen werden unterbunden (Ungarn und Slowakei, Slowenien und Kroatien, Griechenland und Türkei). Doch stößt diese Methode der Europäisierung heute beispielsweise bei der rüden politischen Situation im Balkan und in Südost-Europa auf Widerstand. Die klassische Methode der Gebietserweiterung kann dort so nicht mehr funktionieren.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Zwei Vorstellungen von Erweiterung

Nach der EU-Erweiterung von 2004 — historisch gerechtfertigt, aber von zahlreichen politischen Machthabern ohne definierte politische Ziele durchgesetzt, ohne historische Perspektive, kurzum: wie ein Akt behandelt, der keiner Erklärung bedurfte — kamen Zweifel über die Zielsetzungen des europäischen Prozesses auf. Diese Zweifel verstärkten sich noch mit dem institutionellen Hin und Her der Jahre 2005-2009, mit der misslungenen Erweiterung 2007 in den Ost-Balkan, sowie mit der Weigerung jeder ernsthaften Debatte über die definitiven Grenzen der EU. Das ebnete den Weg für alternative Lösungen, Lösungen aus Washington.

Schon seit seinen Anfängen gab es verschiedene geopolitische Vorstellungen, was das vereinte Europa denn sei solle, doch mussten wir bis 2004 warten, dass man sie wieder ausgrub. Wenn das politische Ziel darin besteht, dass man ein Gebilde schafft, das auf einer historischen, geokulturellen Einheit beruht, das die Rivalitäten zwischen den Nationen überwindet, dann ist die Union nur für seine Gründerstaaten und deren direkte Nachbarn gemacht, die dieselben Werte teilen (juristisch wie auch religiös). Man käme hier auf ca. 30 Mitgliedsstaaten rund um Frankreich und Deutschland. Das ist die Vision der christlich-demokratischen Strömungen in Europa sowie der Europäischen Volkspartei, wobei aber die Parlamentarier aus Nord- und Mitteleuropa eine Integration der Länder des östlichen Rands Europas befürworten. Das zentrale Kriterium ist hier die europäische Identität, die sich in Kultur und geteilten Werten ausdrückt. Unter diesen Umständen gehört die muslimische Zivilgesellschaft der Türkei nicht dazu. [Doch] stellt sich die Frage der Grenzen der EU nicht nur bei der Türkei, mit der im Übrigen weiterverhandelt wird.

Das geopolitische Puzzle Europas

Besteht das Ziel aber darin, verschiedene Völker methodisch zur Zusammenarbeit zu bewegen, indem man die Interessen hierarchisiert, dann kennt die Erweiterung keine anderen Grenzen als die westliche Flanke Russlands. Das ist die Sichtweise des liberalen Flügels, eines Teils der Sozialdemokraten, die für Laizismus und für tadellose islamische Demokratien einsetzen, aber auch der Euroskeptiker, die ein geoökonomisches Szenario bevorzugen, und, wie gesagt, von Washington. Der britische Außenminister David Miliband, ein eifriger Verfechter dieser Linie, geht gar so weit, dass er in das maximale europäische Interessengebiet den Maghreb, die Kaukasus-Anrainerstaaten als auch den Nahen Osten mit einbezieht (Brügge 15. November 2007).

Die Frage nach den „Grenzen der EU“ zu stellen, heißt konkret folgende Punkte zu beantworten: Welches sind die wünschenswerten Grenzen eines vereinten Europas, einer Europäischen Union? Das heißt, was sind die für Europa akzeptablen geopolitischen westlichen Grenzen Russlands?

Und welche Politik in Richtung Balkan, Ukraine oder der Türkei? Was die westlichen Balkanstaaten betrifft, die - Kroatien ausgenommen - sich in sieben Staaten oder Protektoraten aufteilen, sollten die Verhandlungen vor allem auf eine bestimmte Bedingung pochen: Die Länder verpflichten sich, ihre rund 25 bilateralen Streitsachen beizulegen. Es handelt sich dabei um Klagen zu Kriegsverbrechen am Internationalen Gerichtshof, um die schwierigen Fälle der Verschwundenen und Vertriebenen, um Grenzstreitigkeiten, sowie um Meinungsverschiedenheiten bei Wirtschaft, Zoll, Religion oder Diplomatie.

Die Konturen kennen

Es muss auch eine wirkliche Türkei-Politik geschaffen werden, die sich nicht ausschließlich um die institutionellen Fragen des Beitritts dreht. Es ist in der Tat im europäischen Interesse eine dauerhafte geopolitische Allianz mit der regionalen Supermacht zwischen Europa und dem Orient aufzubauen. Sie mag in Zukunft zur EU gehören oder auch nicht, sie ist nun einmal da. Nichts deutet heute darauf hin, dass die türkische Elite am Ende dieses Prozesses dem Abtreten an Hoheitsgewalt, wie es eine Vollmitgliedschaft voraussetzt, zustimmen wird. Aber die türkische Elite wird nicht von der Strategie der Europäisierung lassen, mit oder ohne EU.

Die Debatte der Grenzen der EU stellt sich nicht so sehr zwischen EU und Türkei, die den Weg der Europäisierung eingeschlagen hat und auf lange Sicht sicherlich integrierbar sein wird, als innerhalb der EU selbst und zu deren Zielsetzungen: politische Union oder Gemeinschaft von Nationalstaaten? Der nächste Hohe Vertreter für Außenpolitik wird eine klare Linie herstellen müssen: Wie soll man in einer Welt agieren, wenn man deren Konturen nicht kennt?

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema