Der kasachische Präsident Nursultan Nazarbayev (links) und sein türkischer Amtskollege Abdullah Gül in Astana (KASACHSTAN), Dezember 2007. Foto (AFP).

Ankara schaut nach Osten

In ihrem Jahresbericht über den Beitritt der Türkei ruft die EU Ankara dazu auf, die bisher unternommenen Reform- und Demokratisierungsmaßnahmen auch in Zukunft fortzusetzen. Der Kolumnist der türkischen Tageszeitung Sabah, Erdal Safak, weist jedoch darauf hin, dass es die Türkei mindestens genauso sehr nach Asien zieht, wie nach Europa.

Veröffentlicht am 19 Oktober 2009 um 15:50
Der kasachische Präsident Nursultan Nazarbayev (links) und sein türkischer Amtskollege Abdullah Gül in Astana (KASACHSTAN), Dezember 2007. Foto (AFP).

Der "Bericht über die jährlichen Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum EU-Beitritt" gilt als eine Art "Zeugnis", in welchem die Europäische Kommission die von der Türkei unternommenen Maßnahmen der vergangenen Jahre bewertet. Zum ersten Mal haben wir den Bericht ohne jegliche Begeisterung gelesen. Klar waren wir gerade in Kasachstan, also weit weg von der Türkei und noch viel weiter von Brüssel entfernt, aber das mangelnde Interesse in den vergangenen Jahren ist nicht nur geographisch zu begründen. Sicher haben die Umgebung, in der wir uns befanden, und die dort herrschende Dynamik um uns herum uns beeinflusst. Tatsächlich hat der Bericht 2009 in Kasachstan wirklich niemanden interessiert. Um ganz ehrlich zu sein haben alle darauf gepfiffen. Gerade als wir versuchten, seine Bedeutung zu erwähnen, erwiderte man uns sogleich: "Vergesst Europa ganz einfach und schaut lieber nach Asien!" Andere, die entweder taktvoller oder diplomatischer waren, sagten uns: "Sicher wäre es schade, wenn Ihr den so langen Weg nach Europa aufgeben würdet. Jedoch solltet Ihr irgendwo im Hinterkopf bewahren, dass Ihr eines Tages begreifen werdet, dass Ihr vor allem hier Eure wirklichen Ziele erreichen könnt."

In der Tat ist es ganz offensichtlich, dass die Zukunft der Türkei, aber auch die Europas, sich größtenteils in Zentralasien abspielen wird. Sogar der "kleine Napoleon" Europas, der normalerweise nicht die geringste Kritik verträgt – der französische Staatspräsident Nicolas Sarkzoy –, ist Anfang Oktober untertänigst bis Astana gereist. Die Böden Kasachstans verfügen in Hülle und Fülle über Erdöl, Erdgas und Uran. In kürzester Zeit wird diese Region als neues Norwegen, Kanada und Australien gelten und von vielen Seiten begehrt werden. Die unendliche Weite dieses Landes, welches viermal so groß ist wie die Türkei, aber noch nicht einmal dreißig Millionen Einwohner zählt, bietet zahlreiche Möglichkeiten. Die Türkei hat sich übrigens schon Teilgrundstücke dieser Gebiete sichern lassen.

Unter diesen Bedingungen sind die Kommentare zu dem Bericht über die Fortschritte, die uns erklären, dass "der Ton dieses Berichtes gemäßigter ist als in den vergangenen Jahren" und dass "die Erwartungen und Ansprüche der Europäischen Union gegenüber der Türkei viel angemessener sind", ein einziger Witz. Aber natürlich werden wir die EU nicht zum Narren halten, indem wir ihr sagen, dass uns das wenig kümmert, weil wir ja jetzt unser "Eurasien" haben. Gewiss wird die Europäische Union auch in Zukunft "unser Weg" sein, aber sie ist nicht mehr unser "einziger Weg". Aber abgesehen davon sagen wir: Herzlichen Glückwunsch zu diesem Bericht!

ERWEITERUNG

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Zypern - der Stolperstein der Türkei

In ihrem am 14. Oktober veröffentlichten jährlichen Fortschrittsbericht über den eventuellen Beitritt der Türkei zur EU dringt die Europäische Kommission auf eine schnelle Lösung der Zypernfrage, schreibt Robert Ellis im Guardian. "Nach dem Fall der Berliner Mauer und den Abkommen in Nordirland", so bemerkt er, "ist Zypern der europäische Konflikt, dessen Lösung am längsten dauert." Seit dem türkischen Einmarsch 1975 haben sich die Versuche der Vereinten Nationen, die in einen Nord- und einen Südteil geteilte, jeweils mit türkischen bzw. griechischen Einwohnern bevölkerte Insel wieder zu vereinigen, "als ein politischer Friedhof für vier Generalsekretäre und zahlreiche Gesandten erwiesen."

Der griechische Teil der Insel ist bereits ein EU-Mitgliedsstaat, doch es ist noch unklar, ob der Chef der Zyperntürken, Mehmet Ali Talat, sich mit seinem griechischen Kollegen Demetris Christofias einigen kann, "obwohl die beiden Präsidenten generell über die Parameter der Verhandlungen übereinstimmen – ein Bündnis aus zwei konstituierenden Staaten mit einer einzigen Souveränität." Nichtsdestotrotz liegen da noch Hindernisse im Weg, insbesondere "das Bestehen der Türkei auf einer militärischen Vertretung auf der Insel sowie die türkische Kolonisationspolitik durch Türken vom Festland. Die verbleibende einheimische Bevölkerung der Zyperntürken – ca. 89.000 von insgesamt 260.000 Einwohnern im türkischen Zypern – beschwert sich in der Tat über kulturelle Unterdrückung durch die Türkei."

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