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Ein Sonntag mit den Ballyhea Bondholder Rettungsschirm Protestern.

Ein irisches Dorf sagt Nein

Ein Jahr nach dem Rettungsschirm von EU und IWF blickt Irland zurück. Die Einwohner von Ballyhea veranstalten jeden Sonntag einen Schweigemarsch gegen diejenigen, die das Land in die Rezession gestürzt haben.

Veröffentlicht am 22 November 2011 um 14:47
Diarmuid O’Flynn  | Ein Sonntag mit den Ballyhea Bondholder Rettungsschirm Protestern.

Die Einladung zum ersten Protestmarsch kam vor acht Monaten, auf einem Blatt Papier in DIN A4, und war der Inbegriff der Höflichkeit. “Kurz, prägnant, schweigend”, hieß es da. “Keine Schilder, keine Sprechchöre.” Wer über die aktuellen Geschehnisse verärgert war, sollte sich auf dem Kirchenparkplatz einfinden und bis zum Geschwindigkeitsschild am Dorfeingang mitmarschieren. Keine Ansprachen. “Bringt nur euren Zorn mit.”

Letzten Sonntag nach der zweiten Messe fand im Dörfchen Ballyhea, im Norden der Grafschaft Cork, der Wochenmarsch Nummer 38 statt. Ein zehnminütiger Marsch vom Parkplatz vor St. Mary bis zum Geschwindigkeitsschild am Dorfrand und wieder zurück. Im Lauf der Monate hat der Marsch ein Banner bekommen: “Ballyhea sagt Nein! zum Rettungsschirm für die Bondholder.” Eine kleine Aufwallung von Temperament in einem verängstigten, zurückhaltenden Land.

Stiller, würdevoller Marsch

Es begann mit einem Ortsansässigen, Diarmuid O’Flynn, Sportjournalist beim Irish Examiner. Er schrieb an die Abgeordneten und beschwerte sich über die Rettungsaktionen für die Anleiheninhaber, doch es kamen nur Formbriefe zurück. Im vergangenen März rief O’Flynn dann seine Freunde und Verwandten zusammen. Ein Dutzend Menschen fanden sich auf dem Kirchenparkplatz ein und unternahmen ihren stillen, würdevollen Marsch, und der Rest von uns bekam nichts davon mit.

Für O’Flynn stand der Rettungsschirm für die Anleiheninhaber im Mittelpunkt von allem, was dem Land angetan wurde. Milliarden an privaten Geschäftsschulden, die nun auf die Bürger übertragen wurden und es zugleich für den Staat unmöglich machten, von nun an zu tragbaren Zinssätzen Anleihen aufzunehmen. Er schätzt die Gesamtkosten für die Rettung der Bondholder, mit den Zinsen der kommenden Jahre, auf hundert Milliarden Euro. “Die EZB erlaubt uns also, hundert Milliarden aufzunehmen, damit wir hundert Milliarden dafür ausgeben können, die Anleiheninhaber auszuzahlen.”

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Im Lauf der Monate nahmen bis zu 70 Menschen an dem Marsch durch das kleine Dorf teil, manchmal auch weniger. Ballyhea ist sehr aktiv in der GAA [Gaelic Athletic Association]*, ein ruhiges, konservatives Dorf, wo man nicht daran gewöhnt ist aufzufallen. Wenn die Jugendmannschaft zu einem Spiel gefahren und dort angefeuert werden muss, wenn die Bauern besonders viel zu tun haben, dann lichten sich die Ränge des Marschs. Doch Monat für Monat legt das Dorf sein Zeugnis über den Wahnsinn ab.

11.280.000 Euro hier, 43.275.094 Euro da

Hoffnungen, der Protest würde sich ausbreiten, blieben unerfüllt. In Fermoy tat sich eine Zeit lang etwas, verlief sich dann aber wieder. Ein Marsch nach Dublin erntete Desinteresse. O’Flynn erkennt den Sinn von Protestaktionen über spezifische Themen – die Schließung von Unfallstationen im ganzen Land, die Wiedereinführung der Studiengebühren – oder auch den der Occupy-Bewegung. Doch durch seine Gespräche mit einzelnen Demonstranten und das Bewusstsein der enormen Summen, die da überführt werden und sich auf die Staatsfinanzen auswirken, ist er ins Grübeln gekommen. “Leute, seht ihr denn den Zusammenhang nicht?”

O’Flynn hat auch einen Blog eingerichtet: bondwatchireland.blogspot.com. Dort dokumentiert er jede bevorstehende Zahlung und identifiziert die Bank, die diese Schuld aufgenommen hat. Er gibt die Gesamtbeträge für den laufenden und den kommenden Monat an und ob die Schuld abgesichert ist oder nicht.

Morgen werden wir, so kündigt Bondwatch Ireland an, großzügig weitere 11.280.000 Euro an nicht abgesicherte Bondholder auszahlen, die mit Irish Life & Permanent spekuliert haben. Ein Klacks im Vergleich zu dem, was noch kommt. Vierzehn Tage später werden wir 43.275.094 Euro zahlen, die ein leichtfertiger Spekulant auf das Investmentkönnen der Bank of Ireland gesetzt hat.

Von dem Dutzend Zahlungen, die vor Ende des Jahres noch geleistet werden, sind alle bis auf eine ungesichert – verlorene Wetteinsätze, die den Regeln des Kapitalismus zufolge eigentlich von den erfolglosen, leichtsinnigen Spekulanten getragen werden müssten. Doch die EZB schreibt den Bürgern vor, sie zu bezahlen, obwohl wir nie wussten, dass es eine solche Wette überhaupt gab.

Klein, isoliert, vielleicht sogar zwecklos

Die Anleihe über eine Milliarde Dollar, die wir vor kurzem an die nicht abgesicherten Anleiheninhaber der Anglo-Irish Bank zahlen mussten, ließ den Ärger im Land aufbrodeln, doch O’Flynn weist darauf hin, dass wir allein im nächsten Monat noch mehr zahlen müssen. Und im Januar müssen wir dann rund drei Milliarden hinblättern.

Und die ganze Zeit über wird die Luft mit Debatten über die unbedeutendsten Aspekte der neuesten Sparhaushalte erfüllt sein. Es wird über die legitimen Schulden des Staates gesprochen werden, darüber, dass Geld in den Bankautomaten bleiben muss, doch der Zusammenhang mit der unrechtmäßigen Erpressung, mit den unendlich aussickernden Milliarden für verantwortungslose private Spekulanten wird unbeachtet bleiben. Nur in so kleinen Akten des Widerstands wie in Ballyhea.

Diese Protestmärsche sind klein, isoliert, vielleicht sogar zwecklos – doch dies ist eine historische Zeit, in der kleinere Staaten eingeschüchtert und entmutigt werden, während große Mächte darum kämpfen, ihren Wohlstand zu schützen. Bei kleinen Akten des Widerstands geht es ebenfalls um Kampf, aber auch um Würde, Moral und Prinzipien – und darum, eine Flamme wach zu halten.

*Die Gaelic Athletic Association (GAA) ist ein irischer und internationaler Kultur- und Sportverband für Amateure, der vorherrschend gälische Spiele, irische Musik und Tanz und die irische Sprache fördert. Die GAA hat einen starken Einfluss auf das Leben in Irland und auf die gemeinschaftliche Identität.

Aus dem Englischen von Patricia Lux-Martel

KONTEXT

Kein schönes Jubiläum für den EU/IWF-Rettungsschirm

Vor einem Jahr fiel das wirtschaftlich gebeutelte Irland unter die Vormundschaft der EU und des IWF – mit einem Rettungspaket von 85 Milliarden Euro. Heute kämpft der einstige “Keltische Tiger” immer noch mit der Last der Sparhaushalte und der Kürzungen von Löhnen und Sozialleistungen. Neuesten Statistiken zufolge ist die Arbeitslosigkeit auf 14,4 Prozent gestiegen. Immer mehr irische Staatsbürger wandern aus und die Immobilienpreise fallen weiter in den Keller, so berichtet die Irish Times.

Die einzige gute Nachricht bieten die Exportzahlen, die im Vorjahresvergleich um 23,9 Prozent gestiegen sind. Das Wachstum des Bruttoinlandprodukts betrug 1,6 Prozent. Die Inlandsnachfrage ging allerdings im zweiten Quartal 2011 um 2,2 Prozent zurück.

An den Verlust der wirtschaftlichen Souveränität erinnerte letzte Woche auf anschauliche Weise das deutsche Parlament. Am 18. November meldete die Irish Times, der am 6. Dezember zu veröffentlichende irische Staatshaushalt sei einem Finanzkomitee des Bundestags vorgelegt worden. Die deutschen Abgeordneten wurden also noch vor dem irischen Parlament über die irischen Haushaltsvorschläge informiert.

Irlands Finanzminister habe seither zugegeben, er könne “das Durchsickern vertraulicher Informationen in Zukunft nicht ausschließen, [...] aufgrund der erforderlichen Mengen an Dokumentation zur Absicherung der irischen Rettungsfonds durch Europa”. Die ersten Informationen aus Berlin versprechen einen sehr harten irischen Haushalt, mit Kürzungen in Höhe von 3,8 Milliarden Euro und einer geplanten zweiprozentigen Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 23 Prozent.

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