Die DAX-Kurve in Frankfurts Handelsräumen, November 2011

Schießt nicht auf den Boten!

Standard & Poor’s sorgte mit der angedrohten Herunterstufung in Euroland für großes Aufsehen – dabei hat die Ratingagentur lediglich die Wahrheit gesagt.

Veröffentlicht am 7 Dezember 2011 um 16:16
Die DAX-Kurve in Frankfurts Handelsräumen, November 2011

Ein Augenblick, den kein erbitterter Kritiker der Ratingagenturen verpassen durfte.

Standard & Poor’s hatte gerade erst eine mögliche Herunterstufung der Eurozone erwähnt, da erschien auch schon ein zorniger Christian Noyer. “Die Ratingagenturen haben 2008 die Krise geschürt, und wir müssen uns fragen, ob sie in der aktuellen Krisensituation nicht dasselbe tun”, erklärte der Gouverneur der französischen Zentralbank.

Noyer, der als Vorstandsmitglied der Europäischen Zentralbank eine Doppelrolle spielt, hat vielleicht ein Hühnchen mit den Ratingagenturen zu rupfen, mit seiner Meinung steht er jedoch nicht allein da. Wenige Finanzmarktorganisationen ziehen heute so viel Schande auf sich wie S&P, Moody’s und Fitch.

Die drei Agenturen haben den Ruf, die Spätzünder der Finanzwelt zu sein – diejenigen, die “Feuer” schreien, wenn das Haus bereits fast niedergebrannt ist, und dann ungeschickt noch etwas Benzin auf die Flammen geben. Ob dieser Ruf gerechtfertigt ist oder nicht, sei dahingestellt.

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Die Kritiker sind also der Meinung, dass den Ratingagenturen nicht nur die Finanzkrise von 2008 entgangen ist, sondern dass sie diese darüber hinaus noch geschürt haben, indem sie die giftigen Hypothekenkredite, die der Weltwirtschaft das Dach über dem Kopf wegrissen, mit AAA-Ratings auszeichneten.

Diesmal haben sie Recht

Da wir schon einmal bei den Anschuldigungen sind: die Krise in der Eurozone haben sie auch verpasst. Mehr noch, als Angela Merkel und Nicolas Sarkozy gerade etwas zu erreichen schienen, ließ S&P eine Bombe platzen. Noyer geht noch weiter – er verdächtigt sie einer gigantischen Verschwörung und beschuldigt S&P, ihre “Methoden” zu ändern, die jetzt “stärker durch politische Faktoren und weniger durch die Fundamentaldaten beeinflusst werden”.

“Unsinn” antwortet S&P. Kathleen Brooks, Leiterin des Research bei Forex.com, meint hierzu: “Die USA sind nicht am Untergang Europas interessiert und auch nicht daran, dass die Schuldenkrise noch stärker außer Kontrolle gerät, als sie es ohnehin schon ist, vor allem nicht in einem Wahljahr. Darüber hinaus verlässt sich China auf Wachstum in Europa – das Argument der politischen Faktoren ist also wirklich gegenstandslos.”

Die Kritiker werden dagegen möglicherweise zu einer weniger populären Schlussfolgerung kommen müssen, nämlich dass S&P diesmal Recht hat, was immer man der Agentur auch vorwerfen mag. Und das ist nicht alles. Wahrscheinlich wird kaum jemand glauben, dass die Ratingagentur bisher taktvoller mit der Entwicklung der Eurozonen-Schulden umgegangen ist als viele Marktexperten.

Zunächst die Entscheidung von Montag [5. Dezember]. Der Zeitpunkt war natürlich besonders provokant, aber davon lässt sich S&P nicht abschrecken. Für die Ratingagentur war es die Priorität, vor Beginn des wichtigen EU-Gipfels am Donnerstag [8. Dezember] vor einer möglichen Herunterstufung von 15 der 17 Eurozonen-Mitglieder – einschließlich Deutschland – zu warnen.

Systemische Risiken in der Eurozone

Als Reaktion auf die Kritik vom Dienstag erklärte Moritz Kraemer, Senior-Staatsanleihenanalyst bei S&P: “Wir sind der Ansicht, dass die systemischen Risiken in der Eurozone in den letzten Wochen stark zugenommen haben. Die Folgen für die Kreditwürdigkeit, falls der Gipfel keine effiziente, glaubhafte Lösung findet, bereiten uns Sorgen. Im ersten Quartal 2012 werden zahlreiche Anleihen fällig und müssen refinanziert werden, und in der ersten Jahreshälfte 2012 ist in der Eurozone erneut mit einer Rezession zu rechnen. Die Zeit für eine politische Lösung wird also knapp.”

S&P nannte für ihre Entscheidung fünf miteinander zusammenhängende Faktoren – eine “Straffung der Kreditbedingungen” bei den Banken der Eurozone, “höhere Risikoprämien für immer mehr Staaten der Eurozone”, “anhaltende Uneinigkeit” zwischen den politischen Entscheidungsträgern in Europa, die zunehmende Verschuldung der Staaten und Haushalte und das “zunehmende Rezessionsrisiko”.

Das Gerede von “Merkozy” am Montag und die in Aussicht gestellte, engere Finanzunion haben bei keinem dieser Punkte zu einer wesentlichen Verbesserung geführt. S&P ist auch angesichts der Reformpläne Merkels etwas zurückhaltend. “Da sich die europäische Wirtschaft verlangsamt, wirkt ein Reformprozess, der allein auf finanziellen Einsparungen basiert, selbstzerstörend”, so die Ratingagentur.

Die Märkte dürfte nichts davon überraschen. Auch nicht die Analyse, dass durch eine verstärkte finanzpolitische Integration die Länder mit Triple-A-Rating – Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Finnland, Luxemburg und Österreich – am Haken der verschwenderischeren hängen.

Was interessiert S&P die Politik?

Wie Nicolas Veron im Oktober in einer Abhandlung für den Brüsseler Think tank Bruegel sagte, ist es trotz der Kritik, dass Ratingänderungen “die Entwicklung des Anlegerkonsens negativ beeinflussen können, nicht häufig, dass Rating-Herunterstufungen die Märkte überraschen. Im Allgemeinen folgen die Ratingänderungen eher auf Verschlechterungen der Marktstimmung anstatt ihnen vorauszugehen. Wenn die Ratingagenturen antizipieren, schenken ihnen die Anleger oft nicht viel Aufmerksamkeit – so zum Beispiel, als S&P 2004 begann, Griechenland herunterzustufen.”

Damit wären wir beim zweiten Punkt. S&P stufte im Juli 2004 zunächst Italien herunter. Auf das Land folgten schnell Griechenland und Portugal. Damals machten die Märkte kaum einen Unterschied zwischen den Kreditrisiken der verschiedenen Mitgliedsstaaten der Eurozone. Es stimmt, dass S&P genau wie ihre wichtigsten Wettbewerber zu langsam war, um den ganzen Umfang der Krise wahrzunehmen. Am Anfang war die Ratingagentur jedoch den Märkten voraus.

Einleuchtender ist die Kritik, dass die Ratingagenturen eine schlimme Situation noch weiter verschlimmern können. Wie Veron sagte, liegt das daran, dass Bezugnahmen auf Ratingagenturen in zahlreiche “Vertragsbestimmungen und aufsichtsrechtliche Vorgaben … eingebettet sind. Obwohl die Rating-Agenturen argumentieren, dass es sich bei ihren Ratings lediglich um Stellungnahmen handelt … können diese einen mechanischen Effekt haben, wenn diese Bestimmungen und Vorgaben beispielsweise zum Verkauf eines Wertpapiers verpflichten” – mit diesem Problem versucht Michel Barnier, EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen, gerade fertig zu werden.

Eine Herunterstufung der Länder, die jetzt unter Beobachtung stehen, durch S&P, würde in der Tat die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität, den Rettungsfonds der Eurozone, in Gefahr bringen. Dessen Triple-A-Rating basiert darauf, dass hinter ihm Staaten mit eben solchen Ratings stehen. Das würde Noyer nicht gefallen - was S&P allerdings egal ist.

Meinung

Sparen lässt sie kalt

Ann Pettifor, Leiterin des britischen wirtschaftlichen Think Tank Prime, bringt im Guardian ihre Meinung zum Ausdruck, dass die angedrohte Herunterstufung durch S&P “lediglich die Weigerung der Politiker widerspiegelt, dem notleidenden internationalen Banksystem aus der Patsche zu helfen.” Sie meint, die europäischen Politiker …

… weigern sich standhaft, sich auf Maßnahmen zur Rettung des notleidenden Banksystems zu konzentrieren. Sie sind davon überzeugt, dass man am Finanzsystem nicht herumflicken darf. Es darf nicht besteuert werden, und vor allem darf es nicht der Wut der Märkte ausgesetzt werden. Dafür müssen die Steuerzahler der Euro-Zone für sämtliche Verluste der privaten Banken gerade stehen, die den EU-Haushalten, -Unternehmen und -Staaten Kredit gewährt haben.

Um die Rettungspläne des privaten Banksystems zu finanzieren, wurde in der EU eine Kultur der Einsparungen und Sparmaßnahmen eingeführt:

Wie jeder Person mit gesundem Menschenverstand ist es S&P jedoch klar, dass ‘Sparmaßnahmen’ nicht die Wirtschaft fördern. Sparmaßnahmen bremsen Investitionen und vernichten Arbeitsplätze und damit Einkommen. Ohne Arbeit fehlt es allen – Haushalten, Unternehmen und Regierungen – an Geld. Ohne Einkommen aus Arbeit erhalten Regierungen keine Steuern und Banken keine Rückzahlungen für gewährte Kredite. Also machen Banken pleite, und die Haushaltsdefizite steigen. So einfach ist das.

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