Budapest, November 2011: Forint-Scheine in der Ausstellung "Geschichte des Geldes"

Kapitalismus ohne Ehrgeiz

Die Diskussionen um die Unabhängigkeit der Zentralbank haben zum Abbruch der Verhandlungen mit IWF und EU geführt. Das macht deutlich, dass Viktor Orbáns Regierung ihre „nationale Revolution“ auch im Bereich der Wirtschaft durchsetzen will. Allerdings sind die dieser Politik zugrunde liegenden Prämissen falsch, betont ein Wirtschaftsexperte.

Veröffentlicht am 22 Dezember 2011 um 16:16
Budapest, November 2011: Forint-Scheine in der Ausstellung "Geschichte des Geldes"

Wie wichtig ihm ein wirklicher Bruch mit der seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes vorherrschenden Ideologie ist, hat Viktor Orbán in seiner zweiten Amtszeit zweifelsfrei klar gemacht. Alles, was er sagt und alles, was er tut, dient diesem Ziel. Das Leitmotiv der letzten zwanzig Jahre war die "Modernisierung". Ihr gegenüber war die "Souveränität" nur eine Art Kulisse, eine Fata Morgana.

Dementsprechend ist das Ziel der zweiten Orbán-Regierung (die erste dauerte von 1988 bis 2002) folgendes: Die Wiederherstellung der souveränen Herrschaft, welche die [sozialistisch-liberalen Regierungen der] vergangenen acht Jahre zersetzt haben.

Sein Projekt zielt also darauf ab, einen ungarischen Kapitalismus zu schaffen. Die Wirtschaftspolitik seines Wirtschaftsministeriums, die anscheinend weder Hand noch Fuß hat, dient in der Tat nur einem Zweck: Sie liefert ihm die notwendige Munition, mit der er das Netzwerk zerstören kann, das die Zügel der Wirtschaft noch immer fest im Griff hat. Ansonsten ist Orbáns Projekt recht einfach gestrickt: Der ungarische Kapitalismus kann nicht ohne ungarisches Kapital (insbesondere Finanzkapital) funktionieren.

Woher aber weiß man, dass das Geld, das per se nicht stinkt, "ungarisch" ist oder nicht? Inwiefern kann eine Bank, die landesweit zahlreiche Kunden hat und mehrere Tausend Ungarn beschäftigt, als "ausländisch" betrachtet werden? Ganz einfach: Laut dem "Orbán-System" kann das Kapital, das dabei hilft, den ungarischen Kapitalismus aufzubauen, als ungarisches Kapital betrachtet werden. Auch wenn die Grenzen hier recht unscharf bleiben.

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Um diesen Kapitalismus zu schaffen braucht es also Finanzinstitutionen: Banken und Versicherungen, die imstande sind, sich über die Märkte "herzumachen". Sie entstehen dann, wenn der Staat direkt in neue Banken investiert (durch Rückkäufe bereits existenter). Wenn sie erst einmal kampfbereit sind, können wir die anderen Finanzmarktakteure besänftigen.

Eine Zweidrittelmehrheit im Parlament macht fals alles möglich

Die vor kurzem vom Staat geschaffenen Finanzinstitutionen werden alle von Handlangern des Regierungschefs geleitet. Und nirgends steht geschrieben, dass die ungarischen Banken nicht auch das tun dürfen, was ihre österreichischen und deutschen Kollegen tun: Die Banken ihrer Nachbarn aufkaufen. Ebenso können "die wenigen Finanzinstitutionen, die in den Händen des Staates verbleiben", vollständig rekapitalisiert werden. Dagegen können die Institutionen, die sich in den letzten Jahren als unabhängige Institutionen durchgesetzt haben, wenn es soweit ist, einfach vom Staat aufgekauft werden. Wenn einem zwei Drittel der Sitze im Parlament gehören, dann kann man fast alles machen.

Angenommen diese Institutionen gibt es, dann muss das Kapital aufgetrieben werden, um die geplante Invasion einzuleiten. Nichts leichter als das: Der Staat verfügt über zahlreiche Möglichkeiten, mit denen er "lokale" Akteure bei Ausschreibungen und öffentlichen Aufträgen begünstigen, steuerliche Regelungen vorteilhaft auslegen und Kreditnehmer massenhaft in die Arme ungarischer Banken treiben kann. Ein Beweis dafür? Seit vergangenem Herbst hat die PSZAF [Aufsicht der Finanzorganisationen] immer mehr Bußgelder gegen multinationale Akteure verhängt. Dagegen verpflichtet eine Sondersteuer für Finanzinstitutionen die ausländischen Mutterbanken dazu, ihre magyarischen Filialen mit Nettomitteln zu versorgen.

Derzeitig gibt es aber noch zahlreiche Hindernisse. In erster Linie verfügen die ungarischen Banken nicht über die notwendige Liquidität, um Forint-Kredite zu erschwinglichen Konditionen anbieten zu können. Und lassen wir die Träumereien: Sie werden niemals in der Lage sein, ihre internationalen Konkurrenten im Bereich der Unternehmenskredite auszustechen. Die neuen Akteure des magyarischen Kapitalismus werden ihre Marktposition nur durch Geldanlagen oder Kapitalerhöhung behaupten können. Nun hat die Bevölkerung aber gar kein Geld, das sie sparen könnte. Und Staat und Unternehmen sind hochverschuldet. In dieser Situationen brauchen wir ausländische - oder ungarische - Investoren, die an die Machbarkeit von Viktor Orbáns Projekt glauben. Doch ist es mehr als unwahrscheinlich, dass diese Themen bei den jüngsten Reisen nach Saudi-Arabien und China diskutiert wurden.

Entweder die Miesmacher-Strategie oder Orbáns Vision

Werden wir im Gegensatz dazu erleben müssen, wie der momentan noch existente Schutzwall um die Eigentümer des ungarischen Finanzsektors nach und nach zerfällt und in sich zusammenbricht? Noch ist es zu früh, um dies beurteilen zu können. Allerdings deutet die jüngste Bewertung der Bonität des Landes nicht gerade darauf hin, dass sich die Dinge zum Guten wenden werden. Folgen weitere Herabstufungen, könnten die Versteigerungen von Staatsanleihen für längere Zeit ausgesetzt werden. Pendelt sich der Euro dann bei weit über 300 Forint und der Schweizer Franken bei 250 Forint ein, drohen sich die Türen endgültig zu schließen - obwohl die meisten Ungarn in Fremdwährungen verschuldet sind.

Sollte das Projekt aber erfolgreich sein, wird eine Orbán wohlgesinnte wirtschaftliche 'Walze' entstehen, die das Land de facto für jeden anderen unregierbar machen würde. Dann wird den machthabenden Politikern in der Tat nichts anderes übrig bleiben werden, als Zugeständnisse zu machen und mit dem wirtschaftlichen Leviathan Kompromisse einzugehen. Seit zwanzig Jahren haben die postkommunistischen und neoliberalen Eliten (die nun geschlossen auftreten) nichts anderes getan, als sich für die internationalen Kapitalflüsse zu verbiegen, um vom Westen als Gegenleistung moralisch und finanziell unterstützt zu werden.

Statt dieser Miesmacherei-Überlebensstrategie schlägt Orbán mit seinem Projekt eine Zukunftsvision vor, die tausend Mal besser zum gegenwärtigen Gemütszustand der Ungarn passt. Schließlich sind sie es leid, sich immer unterzuordnen. Das Problem an diesem Projekt ist folglich nicht das, was die (unpolitischen) Geschäftsleute, die liberalen Experten oder die (zur Über-Politisierung neigenden) Linken an ihm auszusetzen haben. Nein. Das eigentliche Problem ist folgendes: Egal ob Orbáns Projekt erfolgreich sein oder scheitern wird - in jedem Fall wird es tragische Auswirkungen haben. (j-h)

Schuldenkrise

Budapest steht unter Druck

Am 21. Dezember hat Standard & Poors Ungarn von BBB- auf BB+ heruntergestuft, wodurch die Staatspapiere nun als spekulative Anlage (auch "Ramschniveau") gelten. Die Wirtschaftspolitik des Landes "ließe sich nicht genau genug vorhersagen", rechtfertigte die Ratingagentur ihre Entscheidung. Wie Népszabadság erklärt, zieht sie insbesondere die neue Verfassung (die am 1. Januar in Kraft treten soll) und die Arbeitsweise der Zentralbank in Zweifel.

Speziell diese zweite Punkt führten am 16. Dezember zum Abbruch der Verhandlungen mit IWF und EU. Die ungarische Regierung, die im Namen der Unabhängigkeit des Landes lange Zeit versichert hatte, keine internationale Hilfe zu brauchen, um Ende November letztendlich doch darum zu bitten, hofft allerdings, dass die Gespräche im Januar wieder aufgenommen werden können. Insbesondere weil die ungarische Landeswährung gegenüber dem Euro immer mehr an Wert verliert.

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