Schicksalsjahr 2012?

Nach dem schrecklichen Jahr 2011 bleibt das Schlimmste immer noch möglich, warnt der Politologe José Ignacio Torreblanca. Die Krise könnte die 27 zu einer Wahl zwischen Griechenland und Großbritannien zwingen. Und wieder einmal wird sich alles in Berlin entscheiden.

Veröffentlicht am 2 Januar 2012 um 16:16

2011 wird das Jahr bleiben, in dem die Europäische Union zum ersten Mal in den Abgrund blickte und das Unsagbare aussprach. Nach zehn Jahren Selbstbeobachtung und Spaltung hatte die EU gerade erst begonnen, die verlorene Zeit wettzumachen, um endlich einer der einflussreichen Player auf globaler Ebene zu werden. Genau in diesem Moment wurde sie, zur allgemeinen Überraschung – in Europa wie im Ausland – mit voller Wucht von einer weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise getroffen, die ihre größte Errungenschaft, nämlich die Währungsunion, ins Wanken brachte.

"Wenn der Euro verschwindet, verschwindet Europa", warnte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel vor den versammelten Mitgliedern ihrer Partei im November 2011 in Leipzig und beschrieb die Situation als "die schwierigste seit dem Zweiten Weltkrieg". Und damit hatte sie Recht: Eine Aufsplitterung der Eurozone hätte derart tiefgreifende Konsequenzen, dass sie sich kaum auf Währungsfragen beschränken würden. Sie würden den Binnenmarkt und die wichtigsten gemeinsamen Strategien mit voller Wucht treffen, auch außenpolitische Bereiche, und somit mehrere Jahrzehnte des mühsamen europäischen Aufbaus zunichte machen.

Die "Politik des leeren Stuhls" in den 1960er Jahren, die "Eurosklerose" der 70er, der Anfang des wirtschaftlichen und technologischen Rückgangs gegenüber den USA und Japan in den 80er Jahren, die Rückkehr der Konzentrationslager und der ethnischen Säuberung in den 90ern, die gescheiterten Volksbefragungen zur EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden zu Beginn der 2000er Jahre: Die EU hat schon andere Krisen erlebt, doch keine davon war im buchstäblichen Sinne existenzbedrohend.

Lieber Sicherheit als Freiheit?

Wie hat sich die Eurokrise bis jetzt ausgewirkt? Der verheerende Zustand von Arbeitsmarkt und Wachstum ist die offensichtlichste, unmittelbarste Folge und er führte zu einem allgemeinen Misstrauen gegenüber der Zukunft des Wohlfahrtsstaats. Aufgrund der Krise haben unsere Gesellschaften auch begonnen, an ihren demokratischen Systemen zu zweifeln, denn sie spüren sehr wohl, dass sie am Markt mit Kräften konfrontiert werden, die sie nicht kontrollieren können. Es ist zu früh, um die psychologischen Folgen der Krise abzusehen, doch die Vergangenheit zeigt, dass verängstigte Gesellschaften mit vermindertem Selbstvertrauen dazu tendieren, sich abzukapseln, ihren Nachbarn zu misstrauen, dem Populismus mehr Platz einzuräumen und die Freiheit zugunsten der Sicherheit zu opfern.

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Die Krise hat auch zahlreiche Schwächen offenbart. Die Währungsunion sollte so stabil sein wie die imposanten, auf den Euroscheinen abgebildeten Bauten, die aber in Wirklichkeit gar nicht existieren (war das etwa schon ein schlechtes Omen?). Sie erwies sich jedoch als unfähig, mit dem Sturm umzugehen, so als wäre sie nur für Schönwetterfahrten konzipiert. Der dünne, doch vitale Identitätsfaden, an dem sich Europa festhält, hat ebenfalls gelitten: Die Solidarität und das gemeinsame Projekt, die beide auf einer gemeinsamen Sichtweise von Vergangenheit und Zukunft beruhen, wurden in Frage gestellt. Sie wurden sogar durch schlimmste kulturelle Vorurteile und Stereotypen zwischen Nord und Süd, Ost und West, Katholiken und Protestanten ersetzt, die wir doch für längst überholt hielten. Das Krisenmanagement könnte einen Slogan tragen: "Zu wenig, zu spät". Fast das ganze Jahr über stand der Euro am Rand des Abgrunds und die Europäer knapp vor dem Infarkt.

Die Hilfe der EZB löst keine Basisprobleme

Auch aus institutioneller Sicht ist die EU besonders geschwächt, jetzt da sich Deutschland und Frankreich ohne Komplexe für eine schonungslose, zwischenstaatliche Funktionsweise entschieden haben. Sie haben die europäischen Institutionen (insbesondere die Kommission und das Parlament) und die sogenannte "gemeinschaftliche" Methode an die Seite gedrängt, die doch bis dato die einzige Möglichkeit war, die Ausgewogenheit zwischen Großen und Kleinen, Reichen und Armen, Norden und Süden zu garantieren.

Im letzten Moment, als das Jahr schon dem Ende zuging, bewahrte die Europäische Zentralbank die europäischen Wirtschaft vor dem Zusammenbruch, indem sie den Bankenmarkt mit Liquiditäten überflutete. Somit gab sie all denen Recht, die behauptet hatten, der Druck auf die Staatsschulden sei nicht die Ursache, sondern die Auswirkung einer Finanzkrise, die aufgrund der Konzeptions- und Funktionsfehler der Eurozone letztendlich die gesamte EU niederschmetterte. Die Entscheidung der EZB rettete die EU, zumindest vorläufig, doch sie löste nicht die Basisprobleme, die noch vorhanden sind und im neuen Jahr angegangen werden müssen.

Es geht dabei insbesondere um die Unfähigkeit, den Euro von der EU zu trennen, damit das Scheitern des ersteren nicht den Zusammenbruch der letzteren mit sich führt. Wenn also dieses Jahr die Griechen und die Briten wieder an den Verhandlungstisch kommen, wird die EU demselben Dilemma gegenüberstehen wie 2011: entweder der Austritt der Griechen aus der Eurozone, mit schrecklichen Konsequenzen, oder ein dauerhafter Bruch mit Großbritannien, der die Einheit des Binnenmarkts bedrohen und die Stellung der EU auf weltweiter Ebene schwächen würde.

Alle Blicke richten sich auf Deutschland

Die Zukunft Europas wird sich jedoch nicht in Randstaaten wie Griechenland und Großbritannien entscheiden, sondern logischerweise in ihrem Zentrum. Die deutsche Regierung analysiert die Krise nach wie vor auf eine Art, die ihre Überwindung verhindert: Wie wir gesehen haben, verlangt die Krise eine Änderung der Normen, mit denen die Eurozone geregelt wird, auch muss die EZB ein neues Mandat erhalten und Euroanleihen ausgeben.

In Berlin musste sich Angela Merkel nicht an einem, sondern an zwei Mästen festhalten: an einer der Währungsunion sehr abgeneigten Öffentlichkeit und an einem dem europäischen Integrationsprojekt feindlich gegenüberstehenden Verfassungsgericht. Diese öffentliche und juristische Meinung, vor der sich die Kanzlerin zu schützen versucht, begründet jedoch nicht ihre Entscheidungen: Sie selbst und ihre Partei haben diese Meinung entstehen lassen und die Deutschen entgegen aller Realität davon überzeugt, der Euro sei für das Land nur ein schlechtes Geschäft und, wenn man dem Verfassungsgericht glaubt, sogar eine Bedrohung der deutschen Demokratie.

So werden sich nun, da die EZB ihre Meinung geändert und beschlossen hat, das Finanzsystem zu retten, alle Blicke auf Deutschland richten und man wird versuchen zu erfahren, inwiefern Berlin Europa weiter mit seinen Zweifeln, Vorbehalten und Ängsten anführen oder ob es sich auf eine konstruktive, langfristige Sicht des Kontinents stützen wird. Ganz gleich, was der Maya-Kalender sagt: Die Kassandra-Prophezeihungen werden sich in Berlin erfüllen oder dort dementiert werden. (p-lm)

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