Eine von 100 000: Demonstration gegen Viktor Orbán am 2. Januar vor der Oper in Budapest.

Allein gegen Orbán, und besser so

In Budapest wächst der Protest gegen Ministerpräsident Viktor Orbán, dem autoritäre Tendenzen vorgeworfen werden. Doch selbst wenn die internationale Gemeinschaft nun zu reagieren beginnt, sollte sie vermeiden, sich in innere Angelegenheiten des Landes einzumischen, meint der Philosoph Gáspár Miklós Tamás.

Veröffentlicht am 3 Januar 2012 um 14:58
Eine von 100 000: Demonstration gegen Viktor Orbán am 2. Januar vor der Oper in Budapest.

Es steht außer Frage, dass EU-Kommission und IWF der ungarischen Regierung Auflagen gemacht haben, die unmöglich umgesetzt werden können. Ziel ist es vermutlich, Viktor Orbán zum Rücktritt zu zwingen. Daher auch das Verlassen des Verhandlungstischs seitens der EU-IWF-Delegation.

Inzwischen hat auch der stellvertretende Staatssekretär im US-Außenministerium Thomas O. Melia erneut seine Besorgnis über den Rückgang der “bürgerlichen Demokratie” zugunsten eines autoritären, diktatorischen Regimes zum Ausdruck gebracht. Viviane Reding, EU-Kommissarin für Grundrechte, kritisierte scharf die ungarische Regierung, der sie Verletzungen der Prinzipien einer freien und konstitutionellen Demokratie vorwirft. Beide liegen in der Kontinuität der harschen Kritik seitens des Europäischen Parlaments, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, des Europarats und der Venedig-Kommission (und selbst des UN-Generalsekretärs).

Der Präsident der Europäischen Kommission José Manuel Barroso schrieb kürzlich dem ungarischen Ministerpräsidenten einen Brief, in dem er ihn höflich aufforderte, bestimmte Gesetzentwürfe nicht dem Parlament zur Abstimmung vorzulegen. Die Journalisten der größten Zeitungen West-, aber auch Osteuropas und Nordamerikas protestieren, wettern und spotten unaufhaltsam. Man kann sich keinen massiveren Druck vorstellen. Jetzt können nur noch direkte Sanktionen folgen.

Die wahren Interessen hinter der westlichen Kritik

Und während eine der parlamentarischen Oppositionsparteien — die LMP (Lehet Màs a Politika, “Politik kann anders sein”, linksliberal und ökologisch) — erklärt, dass eine friedliche parlamentarische Opposition nun unmöglich sei und auf die Straße geht, demonstrieren zwei weitere, vielversprechende Bewegungen, Szolidaritàs und 4K!, machen die Gewerkschaften und neue Bewegungen aus der Zivilgesellschaft mobil und erklären, dass sie ihre Aktionen fortsetzen wollen.

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Die Frage ist, welches die Haltung der oppositionellen Kräfte aus dem linken oder linksliberalen Lager gegenüber dem Druck aus dem Ausland (den westlichen Industrienationen und den Großmächten) ist. Die Antwort ist nicht einfach.

In gewisser Hinsicht rechtfertigt die (fast vollendete) Zerstörung der demokratischen Institutionen eine Intervention des Westens für mehr Demokratie. Vor allem hinsichtlich der exzessiven Macht des anti-demokratischen konservativen Lagers.

Allerdings wollen die westlichen Mächte — und an erster Stelle die Europäische Kommission — nicht nur eine repräsentative, konstitutionelle Demokratie mit Gewaltenteilung bewahren. Sie fordern, dass Ungarn eine Wirtschaftspolitik umsetzen soll, die nicht unbedingt (und das ist eine Untertreibung) den Interessen des ungarischen Volkes dient.

Die vertrackte Lage der Opposition

Das in der Vergangenheit schon so oft enttäuschte ungarische Volk könnte in der “Causa Demokratie” nur das i-Tüpfelchen auf den von den westlichen Mächten verordneten Sparmaßnahmenkatalog sehen. Letztere scheinen sich eher um Finanzstabilität zu sorgen. Wenn der Schutz der demokratischen Institutionen zwangsläufig mit einer Verarmung des ungarischen Volkes einhergeht, ist es nicht verwunderlich, dass sich die Bürger nicht für eine Wiederherstellung der liberalen Demokratie begeistern, die ihnen mehr Armut bringt.

In vielen Punkten ist die Kritik der westlichen Länder an der Regierung gerechtfertigt, doch findet sie beim ungarischen Wähler kaum Echo. Die Bürger Ungarns können den Westmächten kein Mandat geben, die Politik ihres Landes zu ändern. Und sie tun es auch nicht. Die Demokratie durch undemokratische Mittel von außen in die Knie zu zwingen, ist mit nichts zu rechtfertigen. Und die Vergangenheit hat zudem gelehrt, dass dies nicht funktioniert.

Eine Situation, welche die demokratische Opposition Ungarns in eine vertrackte Lage bringt. Sie unterstützt de facto eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, welche sie bekämpfen würde, wenn sie von der Regierung verordnet würde. Und sie zeigt sich mit der Anwendung undemokratischer Mittel solidarisch — also im Widerspruch mit den eigenen Überzeugungen. Ganz zu schweigen davon, dass man sie des Verrats bezichtigen könnte.

Der ungarische Ministerpräsident analysiert die Situation wie folgt: “Im vergangenen Jahrzehnt haben die westlichen Länder lieber im Schuldenmachen Zuflucht gesucht, anstatt die Konjunktur über das Arbeitseinkommen zu stützen. Diese Form der Verschuldung ist außer Kontrolle geraten, vor allem, da die Staaten auf diese Weise ihre Sozialsysteme finanzierten.” Es handelt sich hierbei um eine — schädliche — Halbwahrheit, gepaart mit einem neokonservativen Diskurs, welchen er sonst bekämpft.

Der Preis der nationalen Unabhängigkeit

Der Ministerpräsident bekämpft quasi krankhaft Einkommen ohne Arbeit und tut alles, um das Sozialsystem abzubauen. Er setzt seine finstere Demagogie fort, indem der gegen Subventionen vorgeht. Er war es, der faktisch das Arbeitslosengeld gestrichen, die Renten gekürzt, das Gesundheitswesen zerstört und klammheimlich die ergänzende Privatversicherung wieder eingeführt hat, radikaler noch als in den Plänen seiner neoliberalen Vorgänger die linksliberalen Regierung von Ferenc Gyurcsány. Letztere träumten davon, mussten sich aber den Gewerkschaften beugen — die Viktor Orbán damals noch unterstützte. Es gibt also keine Divergenzen zwischen der Regierung Orbáns und dem Tandem EU-IWF.

Im Großen und Ganzen lautet das Dilemma im Dilemma: Soll man die nationale Unabhängigkeit verteidigen, wenn die Souveränität des Volks in Trümmern liegt und die freiheitlichen Grundrechte relativiert wurden?

Eine Voraussetzung für die Wiederherstellung der nationalen Unabhängigkeit bleibt die Wiederherstellung der Demokratie. Der Wiederaufbau und die Erneuerung der Demokratie können, so denke ich, nur von neuen politischen Kräften aus der Zivilgesellschaft ausgehen. Vorübergehende taktische Erwägungen dürfen diesen Prozess nicht im Voraus gefährden.

Solange es kein föderales, demokratisches Europa gibt, bleibt unsere Unabhängigkeit der letzte Schutz. Es handelt sich hierbei um einen Rahmen, der es uns in der gegenwärtigen Lage ermöglicht, die Souveränität des Volkes wieder herzustellen, mehr noch: neu zu erfinden. Es ist beunruhigend, dass das ungarische Volk weder im Land noch im Ausland über mächtige Verbündete verfügt. Mehr denn je brauchen wir treue und starke Freunde. (js)

Hintergrund

Mehr Macht für Orbán

Zwischen 70 000 und 100 000 Menschen haben am 2. Januar in Budapest gegen die am Vortag in Kraft getretene neue Verfassung demonstriert. Im neuen Grundgesetzist die Bezeichnung “Republik” aus dem Landesnamen gestrichen worden. Der Text, der die Kontrolle der Regierung über das Verfassungsgericht stärkt und sich explizit auf Gott bezieht, wird als Instrument zugunsten der Fidesz-Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán gewertet.

Auch das am 23. Dezember verabschiedete neue Wahlrecht steht im Kreuzfeuer der Kritik. Darin wird die Zahl der Abgeordneten verringert, nur noch in einem Wahlgang gewählt, die Zahl der notwendigen Unterschriften zur Kandidatur erhöht, die Wahlkreise verändert sowie Auslandsungarn das Wahlrecht eingeräumt. Das neue Wahlgesetz wird als ein Manöver betrachtet, das einen Sieg der Fidesz bei den kommenden Wahlen erleichtern soll.

Diese Neuerungen treten in Kraft kurz nachdem die Verhandlungen Ungarns mit dem IWF und der Europäischen Union am 16. Dezember abgebrochen wurden. Beide Institutionen sehen im neuen Status der Ungarischen Nationalbank eine Bedrohung von deren Unabhängigkeit. Gleichzeitig führte das Parlament eine Zwei-Drittel-Mehrheit für alle Änderungen des Steuerrechts ein, was Verhandlungen zu diesem Thema noch weiter erschwert.

Und schließlich führte das neue, vom Verfassungsgericht teilweise beschnittene Mediengesetz zur Verschärfung der staatlichen Kontrolle zum Hungerstreik von zwei Journalisten des öffentlichen Fernsehens. Beide Männer wurden entlassen.

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