Budapest, 2. Januar. Viktor Orbán eröffnet die Ausstellung "Helden, Könige und Heilige. Die Geschichte der Malerei und des ungarischen Gedächtnisses" in der ungarischen Nationalgalerie.

Viktor Orbán - die Folge einer bewegten Geschichte

Um den nationalistischen und identitären Rückzug der aktuellen ungarischen Regierung zu verstehen, muss man in der Geschichte des Landes nachforschen – mit besonderem Augenmerk auf das fragile Bürgertum und den Frust nach militärischen Niederlagen – findet Bruno Ventavoli, Experte für ungarische Literatur.

Veröffentlicht am 5 Januar 2012 um 15:36
Budapest, 2. Januar. Viktor Orbán eröffnet die Ausstellung "Helden, Könige und Heilige. Die Geschichte der Malerei und des ungarischen Gedächtnisses" in der ungarischen Nationalgalerie.

Hunderttausende haben letzte Nacht beim Budapester Opernhaus, zwischen eleganten Gebäuden und Straßen, gegen das neue Verfassungsgesetz von Premier Viktor Orbán demonstriert, für das ausschließlich das Mitte-Rechts-Bündnis gestimmt hatte.

Es waren viele, viel mehr als sonst, in einer von der Wirtschaftskrise gebeutelten Zivilgesellschaft – doch wie die Jungen von der Paulstraße [nach Franz Molnars Roman, Anm. d. Ü.] kämpften sie für einen Grund, der bereits verloren war. In der Oper feierte die Regierung mit großem Pomp das neue Staatsgefüge, das von der internationalen Gemeinschaft abgelehnt wird.

Die ungarische Zentralbank soll der Politik unterstehen (eine angesichts der turbulenten Finanzlage höchst kuriose Idee), ebenso wie der Verfassungsgerichtshof und die Medien (viele Dissidenten unter den Journalisten wurden bereits wegen des Presse-Knebelgesetzes entlassen), die Führungskräfte der heutigen sozialistischen Partei können rückwirkend für "kommunistische Verbrechen" vor 1989 belangt werden – man könnte noch zahlreiche weitere Details nennen, vom Schutz der Auslandsungarn bis zum Schutz der Hetero-Ehe.

Das Ergebnis ist ein autoritäreres, antimoderneres Land, das die EU und Obamas Amerika in Aufregung versetzt – außerdem den Internationalen Währungsfonds, der die Verhandlungen über einen Riesenkredit für den siechenden Forint unterbrochen hat.

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Faschistisches Brodeln

Mit Orbán – ursprünglich Liberaler, aber schon bald vom Populismus angesteckt – und der rechtsextremen Jobbik-Partei ist ein reaktionärer Geist wiederaufgekommen, der den Westen überrumpelt hat. Wer die Romane von Sándor Márai (1900-1989) oder Gyula Krúdy (1978-1933) gelesen hat, kann die in der Literatur geschilderte Atmosphäre wohl nur schwer in der Realität wiedererkennen – doch genau hier liegt der Schlüssel zum Verständnis des "faschistischen Brodelns" im neuen Ungarn. Márai beschrieb wie viele andere im "kurzen 20. Jahrhundert" geborene Schriftsteller die wunderbare bürgerliche Welt des großen Budapests der K.-u.-k.-Monarchie (nicht umsonst heißt sein Meisterwerk "Bekenntnisse eines Bürgers"):

intellektuelle Brillanz, Toleranz, Norbert Elias' "höfische Gesellschaft", Vaterlandsliebe, die durch einen natürlichen, großartigen Kosmopolitismus kompensiert wurde. Es konnte nur so sein, wenn man in einen Haushalt mit unzähligen Büchern hineingeboren wurde, in eine Familie, in der drei bis vier Sprachen fließend gesprochen wurden. Das Bürgertum war die treibende Kraft des modernen Europa, überall, auch in Ungarn. Doch es gab ein Problem: In den Donauländern hatte sich das Bürgertum nach Jahrhunderten des Krieges und der Fremdherrschaft erst später herausgebildet. Und es war trotz des Glanzes der Belle Époque sehr fragil.

Zu Márais Zeiten existierte diese bürgerliche Welt schon nicht mehr, sondern lag unter den Trümmern des Ersten Weltkrieges begraben.Verschreckt durch die kurze und blutige bolschewistische Revolution, dann wieder beruhigt durch den Horthy-Faschismus, der allerdings nationalistische und feudale Symbole, Parolen,Federbuschen liebte. In den mehr als 40 Jahren Volksdemokratie ab 1948 wurde die Auslöschung des Bürgertums natürlich fortgesetzt.

An der Schwelle zwischen Ost und West

Als 1989 von einem Tag auf den anderen die Marktwirtschaft eingeführt wurde, hatte die Mittelklasse wieder mehr Luft. Doch das war nicht genug. Der schwache Forint machte schnell allen Träumen von Wohlstand, Neubeginn und westlicher Prosperität ein Ende, was wiederum Ängsten und Hochmut Platz machte, mit denen Ungarn jahrhundertelang gelebt hat, an der Schwelle zwischen Ost und West.

In einer Welt, in der es schwierig ist, einkaufen zu gehen und Rechnungen zu bezahlen, erscheinen Werte wie Demokratie, Pluralismus und Dialog überflüssig und verzichtbar, und man ist versucht, sich abzuschotten und an die Idee eines "großen Ungarn" zu klammern, vielleicht in einem Anflug von borniertem Selbstmitleid angesichts der geschichtlichen Ereignisse: Türkenkriege, sowjetische Besatzung, Verlust von zwei Dritteln des Staatsgebietes durch den von Frankreich gewünschten Vertrag von Trianon.

In schwierigen Zeiten fühlt sich Ungarn aufgrund dieser "Altlasten" weniger als Teil des Kontinents, sondern stellt vielmehr heftigst seinen verhängnisvollen Stolz zur Schau, unterstützt durch die weiche, altaische Sprache, die niemand in Europa versteht. Als Orbán die internationale Gemeinschaft durch die neue Verfassung herausforderte – "Niemand kann darüber urteilen, was wir tun", meinte er – schien auch dieser Geist durch. Reformen, Modernität und Markt können warten – lieber auf schwammige Mythen wie Lauterkeit, den heiligen Boden (den übrigens die Ausländer der Globalisierung für ein paar Forint kaufen können) oder starke Männer an der Macht vertrauen.

Wieder einmal wurde die Mittelklasse vernichtet, durch einen konfusen Staat und die Inflation. Und abermals ist man versucht, seine politischen Gegner nicht einfach zu besiegen, sondern sie auszulöschen, ihnen den Prozess zu machen, ja sie mundtot zu machen. Doch damit europäische Familie die ungarischen Cousins nicht wieder verliert, müssen wir uns fragen, woher ihr Leiden rührt.

Gegenmeinung

Es hagelt ungerechtfertigte Kritik

"Alle greifen Orbán an" titelt die Tageszeitung Rzeczpospolita. Meist ungerechtfertigt und "nahezu ausnahmslos" wird die ungarische Regierung kritisiert, beanstandet das konservative Warschauer Blatt:

Wenn es darum geht, ein dramatisches Bild Ungarns zu zeichnen, überbieten sich die linksliberalen Medien einander. Ihren Behauptungen nach macht sich [in Ungarn] Faschismus breit, schwindet Demokratie und knebelt die Regierung ihre Widersacher mit ihrer patriotischen Politik und ihren gegen europäische Normen verstoßenden Gesetzen.

Zu Unrecht warf man Orbáns Regierung vor, die wichtigste Oppositionspartei mit einem Gesetz verboten zu haben, das die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP) als "kriminelle Organisation" verurteilt, meint Rzeczpospolita.

In Wirklichkeit ging es um die Vorgängerpartei, die kommunistische Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (MASZMP), die das Land bis 1989 regierte. Der wissenschaftliche Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, Kai-Olaf Lang, meint, es sie nicht leicht, die Erfolge der Regierung Orbán ausgewogen zu beurteilen. Einerseits versuche sie, das wirtschaftliche Tief mit einer Reihe von Reformen, wie etwa der Einkommenssteuer von 16-Prozent zu überwinden. Andererseits könne man sich um viele ihrer Schachzüge streiten.

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