Ein Dia-Supermarkt in Valencia.

Ein Leben als Schnäppchenjäger

In Krisenzeiten, wenn man 1 000 Euro brutto monatlich verdient und nicht völlig auf gewisse Annehmlichkeiten verzichten will, ist Schmalhans Küchenmeister, und das Leben wir zur Schnäppchenjagd.

Veröffentlicht am 9 Januar 2012 um 16:01
Polycart via Flickr CC  | Ein Dia-Supermarkt in Valencia.

In Spanien leben 17,1 Millionen Menschen, die monatlich rund 1 000 Euro brutto verdienen. Der Gewerkschaft der Fachleute des Wirtschafts- und Finanzministeriums (Gestha) zufolge sind das immerhin 63 Prozent der Bevölkerung. Mit diesem Betrag über die Runden zu kommen, ist eine Herkulesarbeit. Jeder Kauf muss genau überlegt sein. Für Tausende von Spaniern ist Einkaufen zu einer Übung im Verzicht geworden.

In diesem kargen Umfeld wachsen, gedeihen und vermehren sich Discounter und sonstige Low-Cost-Anbieter. Ihnen scheint noch ein langes Leben bevorzustehen. Jeden Tag erobern sie neue Stellungen in der Gesellschaft und der Wirtschaft. Restaurants, Reisen, Autos, Versicherungen, Elektronik, Immobilien, Unterhaltung, Bekleidung, Lebensmittel. Nichts scheint ihnen zu entkommen. Die Frage ist nur, ob sie das Ende der Krise überleben. Handelt es sich um eine strukturelle oder eher eine konjunkturelle Strategie? Wie verändern sie das Konsumverhalten? Wird der Verbraucher künftig vernünftiger sein und nicht mehr spontan ins Regal greifen? Wird die Schnäppchenjagd zu einer neuen Lebensform?

“Zwanghaftes Kaufen ist eine Krankheit, die wir oft behandeln, aber Sparen, sogar zwanghaftes Sparen, ist nicht krankhaft”, erklärt Guillermo Fouce, Psychologe und Professor an der Universität Carlos III in Madrid. Sparkranke gibt es nicht, obwohl alle extremen Konsumverhalten zu Problemen führen können.

Das “Ausreichend”-Prinzip

Der Verbraucher der Post-Discount-Zeit wird sich klar vom gegenwärtigen Konsumenten unterscheiden. Erstens, weil er Neues gelernt haben wird. “Der Käufer entdeckt, dass er ähnliche Produkte günstiger erwerben kann. Wer heute teuer verkaufen will, hat keine Chance”, unterstreicht Javier Vello, Leiter für Handel und Konsum beim Unternehmensberater PricewaterhouseCoopers. Zweitens, weil “der Verbraucher seit der Krise mehr auf sein Geld achtet und genau abwägt, was hinter jedem Artikel steckt.”

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Es wird also immer schwieriger werden, Verbraucherprofile zu definieren. Das dürfte wiederum die Vertriebsstrategien der Unternehmen stark beeinflussen. Deshalb werden wir eher von Konsumgelegenheiten sprechen. Manche Verbraucher werden sich bei bestimmten Produkten für Eigenmarken entscheiden, während sie sich in anderen Fällen bei unveränderter Kaufkraft die teuersten Artikel leisten. Aber das ist noch Zukunftsmusik. Gegenwärtig erobert der Discounthandel alle Branchen.

“Der Konsument sucht nicht mehr nach einer 'höheren Funktionalität', wie ich sie nenne, sondern nach einer ‘ausreichenden Funktionalität’, die günstiger ist. Das heißt, er fragt sich: 'Warum kaufe ich mir ein Auto mit allen Extras, wenn ich sie doch gar nicht brauche?'”, meint Javier Rovira, Professor an der spanischen Business and Marketing School ESIC.

Juan Carlos Esteban, ein junger verheirateter technischer Zeichner mit zwei Kindern, ist ein beispielhafter Vertreter dieses Phänomens, das einen Großteil der spanischen Gesellschaft in seinen Bann gezogen hat. Er begann seine Discount-Strategie 2007, “als die Ausgaben immer höher wurden”. In kurzer Zeit wechselte er dreimal den Handyanbieter, wodurch er seine monatliche Rechnung von 50 auf 18 Euro drücken konnte. Um bei der Versicherung zu sparen, schloss er einen Vollkaskovertrag mit Eigenbehalt ab, der 350 Euro billiger war als die alte Police. Bei den Lebensmitteln setzt er vor allem auf Eigenmarken. Insgesamt gibt er jetzt rund 25 Prozent weniger aus als vor der Umsetzung seines Sparprogramms.

Gegen dieselben Kleider, dieselben Läden, dieselben Artikel

Jorge Riopérez, Leiter der Abteilung Konsum und Unternehmen bei KPMG, erklärt: “Discount oder Low-Cost besteht nicht darin, Preise zu senken, sondern unnötige Kosten zu streichen. Low-Cost und Low-Price wird ständig verwechselt. Low-Cost setzt natürlich eine Preissenkung voraus, während Low-Price auf einem Preiskampf und einer niedrigeren Gewinnspanne beruht.”

Wie dem auch sei, letzten Endes vermittelt die ständige Schnäppchenjagd ein Gefühl der Dringlichkeit und der Notwendigkeit, zeigt aber auch, dass alle ihren Lebensstandard aufrechterhalten und sich weiterhin Produkte leisten wollen, die nur dem Genuss dienen. “Das geschärfte Preisbewusstsein der Haushalte, die mit der gegenwärtigen Wirtschaftskrise konfrontiert werden, sowie die Notwendigkeit, den Gürtel enger zu schnallen, ohne den Status quo aufzugeben, führt zu erfinderischen Einkaufsstrategien, mit denen man sich etwas erlauben kann, das sonst unerschwinglich wäre”, so David Sánchez, Media Analytics Director beim Marktforscher Nielsen.

Das Streben, den Lebensstandard aufrechtzuerhalten, begründet den Erfolg des Couponing. Gutscheine und Rabattmarken sind mit Low-Cost-Carriern und Mode-Einkaufsportalen die Gallionsfiguren des Discount-Konzepts. Die Zahl der Besucher, die im Internet Jagd auf Ermäßigungen und Coupons für billigere Freizeittätigkeiten machen, ist um 64 Prozent gestiegen.

Heute sind die digitalen Outlets für erschwinglichen Luxus und ermäßigte Kleidung der Inbegriff dieser Angebotskategorie. Wer jedoch ein gutes Gedächtnis hat, weiß, dass der Höhenflug der niedrigen Preise in Spanien den Fluggesellschaften zu verdanken ist, weniger was den Umsatz betrifft, sondern eher in Bezug auf die gesellschaftliche Akzeptanz des Phänomens.

Ob Niedrigpreise, Schnäppchen oder Sonderangebote, Fakt ist, dass der Discount Tausenden von Menschen ermöglicht, sich endlich des Gefühls zu entledigen, das einen verfolgt, wenn man seit Jahren dieselben Kleider trägt, dieselben Läden aufsucht und dieselben Artikel kauft.

Wohnungsnot

Wohngemeinschaft als Überlebensstrategie

Barcelona und andere spanische Großstädte zählen immer mehr krisenbedingte Wohngemeinschaften, soEl Periódico.

Die Wirtschaftskrise hat nicht nur den Wohnungsmarkt eingefroren und die Gehälter gekürzt, sondern auch dazu geführt, dass Menschen Wohnungen teilen, nur um überleben zu können und sich nicht an ihre Verwandten wenden zu müssen. Früher war diese Form des Zusammenlebens auf Studenten beschränkt, heute finden auch ältere, schlecht bezahlte Berufstätige, Geschiedene und Arbeitslose in Wohngemeinschaften Zuflucht. Manche vermieten Zimmer, um ihre Hypothek zu tilgen, andere wiederum nehmen Untermieter (was eigentlich verboten ist), um die eigene Miete bezahlen zu können.

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