Bild: Umberto Salvagnin

Zucker-Zocker in Europa

Nirgendwo auf der Welt ist Zucker teurer als in der Europäischen Union. Dafür gibt es zwei Gründe: großzügige Agrarsubventionen, die den 7 Milliarden Euro schweren Sektor abstützen... und lukrative Betrügereien, die von den Begünstigten, also den europäischen Zuckerfirmen selbst ausgeführt werden. Ein Bericht des International Herald Tribune.

Veröffentlicht am 17 November 2009 um 13:20
Bild: Umberto Salvagnin

Es begann damit, dass belgische Zollbeamte die Lieferbelege für Dutzende von riesigen Tankwagen überprüften, deren Routen in einem seltsamen Dreieck durch Europa führten. Die Tankfahrzeuge, die jeweils 22 Tonnen flüssigen Zucker geladen hatten, durchquerten acht Länder und bewältigten von einer belgischen Zuckerraffinerie bis nach Kroatien und wieder zurück eine Entfernung von insgesamt rund 4.000 km – statt der direkteren, 1.500 km langen Route. Unterwegs hielten die Lastwagen kurz in Kaliningrad, einem düsteren, geschäftigen russischen Grenzkontrollposten an der Ostsee.

Und plötzlich ergab das Zuckerdreieck Sinn. Auf den Firmenunterlagen stand Russland – nicht Kroatien – als Bestimmungsland. Und der russische Zwischenstopp gab den Zuckerlieferungen Anspruch auf hohe Sonderleistungen – Ausfuhrvergünstigungen des landwirtschaftlichen EU-Subventionsprogramms GAP. Innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren ratterten – so die Ermittler – rund 200 Lieferungen über diese Route, was dem belgischen Zuckerhersteller Beneo-Orafti drei Millionen Euro Ausfuhrerstattung einbrachte. Im diesjährigen Frühjahr ermittelten Dutzende von belgischen und europäischen Fahndern in den Büros der Firma, froren die Hälfte der Ausfuhrerstattungen ein und initiierten eine Untersuchung, die das Unternehmen gut und gerne die verbleibenden 1,5 Millionen Euro auch noch kosten könnte – und womöglich mehr.

Eine Keksdose, die darauf wartet, geplündert zu werden

In dem ausgedehnten europäischen Unterstützungsprogramm, das jährlich mehr als 50 Milliarden Euro Agrarsubventionen verteilt, ist nach Expertenmeinung kein Erzeugnis anfälliger für Betrug, Unterschlagung und Regelverstöße als einfacher Haushaltszucker. In der sieben Milliarden Euro schweren Branche gab die EU letztes Jahr 475 Millionen Euro für Zuckerpreisstützungen aus. Weitere 1,3 Milliarden Euro wurden für Umstrukturierungen aufgewendet, für die Reform eines Subventionssystems, das so freigebig ist, dass sogar das kalte Finnland mehr Zucker erzeugen will.

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Angesichts dieser hohen Einsätze sehen Kritiker und manche Analysten das Zucker-Subventionssystem als eine Keksdose, die förmlich darauf wartet, geplündert zu werden. Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung, kurz OLAF(Office européen de lutte anti-fraude), berichtete, dass von 2005 bis 2008 Zuckersubventionen im Wert von 67 Millionen Euro mit Verstößen und Betrug behaftet waren. Viele Länder mussten in den letzten Jahren aufgrund von Zuckerinspektionen noch Millionen mehr Strafe zahlen. Im Jahr 2008 war das OLAF mit 34 Fällen von Zuckerbetrug beschäftigt, im Spiel waren dabei 4,4 Millionen Euro: eine Zahl, die eigentlich nur als das Tüpfelchen auf dem i gilt, weil viele der Machenschaften gar nicht erst aufgedeckt werden.

Kritiker sagen schon lange, dass Europas Subventionssystem den Markt verfälscht, indem es die Konkurrenz verzerrt und die Preise in die Höhe treibt. Das trifft besonders auf den Zucker zu, der in Europa im Vergleich zum Weltmarkt seit mehr als zwei Jahrzehnten zu rund doppelt so hohen Preisen gehandelt wird. Die europäischen Zuckerpreise pro Kopf sind weltweit die höchsten, doch den Ermittlern zufolge tragen Betrug und Regelverstöße ebenfalls beträchtlich zu den erhöhten Kosten bei, aufgrund der Millionenverluste durch ausgefallene Steuereinnahmen und unberechtigte GAP- Zahlungen.

Ein bisschen Tee zum Zucker?

Zuckerfirmen behaupten, ihre Tätigkeiten werden falsch ausgelegt, weil sie von einem schwierigen, verwirrenden EU-System bestimmt sind. "Es ist sehr kompliziert" und für jedermann schwer zu verstehen, so Dominik Risser, ein Sprecher des deutschen Südzucker-Konzerns, des Industrieriesen in Europa mit 40 Fabriken in zehn Staaten, darunter auch Beneo-Orafti. Südzucker kassierte dieses Jahr Agrarsubventionen in Höhe von knapp 448 Millionen Euro für alle seine Filialen und lehnte jeglichen Kommentar zur Untersuchung über Beneo-Orafti ab.

Europa ist sich seines Zuckerproblems bewusst und hat Reformen eingeleitet, welche die Zuckersubventionen und den damit verbundenen Betrug reduzieren sollen. Die meistverbreiteten Machenschaften bestehen wohl darin, billigen Rohrzucker aus dem Ausland mit dem europäischen Rübenzucker zu mischen, was die Produktionskosten mindert und das Volumen vergrößert. Firmen, die das tun, geben oft ein falsches Ursprungsland für den Zucker an, was natürlich illegal ist. Eine Weiterführung der Zucker-Mixereien sind dann exotischere Mischformen – Zucker, der mit geringen Mengen Tee und Kakao vermengt wird. Dadurch können die Exporteure ihre Produkte als veredelte Nahrungsmittel deklarieren und somit niedrigere Zollgebühren zahlen – oder gar keine.

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