Schwarzmarkt für Stimmzettel

Die Jahre vergehen, doch eine Tradition im Süden Italiens bleibt bestehen, nämlich der An- und Verkauf von Wahlstimmen. Drei Kandidaten zur Europawahl berichten über ihre Erfahrungen: "all inclusive" Paketangebote zu Billigpreisen, ab 80 Cent pro Stimme.

Veröffentlicht am 1 Juni 2009 um 17:12

Alles kann man kaufen, auf dem freien Markt der europäischen Wahlstimmen. Am 20. Mai war Kandidat Giacomo Mancini in der Provinz Bari in Apulien auf Stimmenfang, als sein Handy klingelte. Seine Nummer hat sich seit acht Jahren nicht geändert, Tausende von Leuten kennen sie. "Mein Gesprächspartner erzählte mir, er sei politisch aktiv und wolle sich mit mir treffen. Wir vereinbarten also einen Termin in Andria. Ich habe mich schon immer unter die Leute gemischt und mein Motto heißt Transparenz." Am Treffpunkt dann die Überraschung: Drei Männer erklären Mancini, dass sie zehn Wahlbezirke beherrschen und ihm ein Paket von 2.000 sicheren Stimmen anbieten können. "Dafür, dass mein Name angekreuzt wird, sollte ich 3.000 Euro hinblättern." Ein richtig gutes Geschäft: 1,50 Euro pro Stimme. "Diese Aufrechnung fanden wir sehr amüsant, meine Mitarbeiter und ich. Aber ich habe zuerst die drei Typen verabschiedet und ihnen mitgeteilt, dass ich meine Stimmen nicht kaufe, sondern sie mir verdiene." Wie das Trio darauf reagierte? "Gar nicht. Sie haben sich umgedreht und sind gegangen. Wahrscheinlich direkt zum nächsten Kandidaten, um ihm dasselbe Angebot zu machen."

Mancini hat die Polizei nicht benachrichtigt. Er hat lieber die Geschichte – die beileibe kein Einzelfall ist – seinen Wählern erzählt. "Wahlkampagnen kosten viel Geld und man wird von vielen Leuten angesprochen, die einem die Gründung von Unterstützungskomitees anbieten." Bestimmt nicht umsonst.

Ob in Apulien oder in Sizilien, es tönt dasselbe Lied. Rosario Crocetta ist der Bürgermeister von Gela. Sein Leben lang trotzt er schon der lokalen Mafia und wird nun bedroht, seitdem er die Ehefrau von Clanchef Daniele Emmanuello von der Liste der städtischen Angestellten gestrichen hat. Nicht nur während der Kampagne, sondern das ganze Jahr über ist Crocetta nie ohne seine Eskorte unterwegs. Das hat gewisse Mafiosi allerdings nicht davon abgehalten, sein Team zu kontaktieren und ihm ein Stimmenpaket anzubieten. "Pro 500 Stimmen sollte ich 400 Euro zahlen." Im Vergleich zu Apulien – 80 Cent pro Stimmzettel – ist das fast 50% günstiger.

Der Bürgermeister von Gela erklärt uns den Mechanismus. "In der letzten Woche vor der Wahl steigt der Preis für eine einzige Wahlstimme in Sizilien bis auf 50 oder 60 Euro. Anders lässt sich nicht erklären, warum unbekannte Kandidaten Tausende von Stimmen einheimsen und einen Sitz davontragen."

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In Neapel läuft es kaum anders. Enzo Rivellini ist in der Region Kampanien Gruppenleiter der ehemaligen Alleanza Nazionale (AN), die kürzlich in Silvio Berlusconis Partei Popolo della Libertá (PDL) aufgegangen ist. Er präsentiert sich den Wählern nach einem jahrelangen Kampf gegen Verschwendung und Kriminalität. Doch wenn er mit diesem oder jenem potentiellen Wähler telefoniert, versucht es immer wieder einmal einer. "Geld, nein, Geld wollte noch keiner. Aber so ganz nebenbei teilt man mir mit, dass ein Sohn Arbeit sucht, das ist gang und gäbe." Um der Diskussion zu entgehen, hat er einen Trick. "Ich antworte immer, dass uns einer der Carabinieri hören könnte", lacht Rivellini. "Aber die dramatischen Lebensbedingungen der Menschen im Süden geben trotzdem zu denken." Und eine neue Preistabelle für Wahlstimmen wird der Region ganz bestimmt nicht aus ihren Schwierigkeiten heraushelfen.

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