Bushaltestelle in Kaliningrad. (Bild: Rrrtem)

Kosmopolitisches Kaliningrad

Die einst abstoßende russische Exklave Kaliningrad boomt entlang staatlicher Finanzspritzen und Öleinkommen. Cafebabel.com berichtet über eine Stadt, die mittlerweile mit einer Moskauer Mischung aus Dreck und Luxus wuchert.

Veröffentlicht am 20 November 2009 um 13:29
Bushaltestelle in Kaliningrad. (Bild: Rrrtem)

Die eingeklemmt zwischen Polen und Litauen gelegene Stadt, die eine halbe Million Einwohner zählt, wurde 1945 der Sowjetunion zugesprochen. Erbaut auf den Ruinen des damals deutschen Königsberg hat sie seit der Perestroika viele negative Kommentare als düsterer Überrest sowjetischer Zeiten erhalten. Kaliningrad, das inzwischen zu einer Sonderwirtschaftszone innerhalb der Russischen Föderation erklärt wurde, erhielt während der Präsidentschaft Wladimir Putins spezielle Begünstigungen, da seine Frau aus dieser Stadt stammt. Mit staatlichen Geldern und den Einkommen aus dem Ölgeschäft erlebte die Stadt einen Bauboom und bietet nun den vertrauten Mix aus Auffälligem und Kitschigem, dem Moskau seinen Ruf verdankt. Nahe gelegene Strände versüßen das Geschäft, mit alten deutschen Hotelanlagen, die gerade erst neu gestaltet wurden.

Singapur im Baltikum

Im angesagten First Coffee auf dem Siegerplatz treffen Zero-Size-Glamourmodels auf russische Metrosexuelle. Das Café ist der beste Ort der Stadt, um Leute zu beobachten, ein Cappuccino kostet hier läppische 80 Rubel (1,84 Euro), einen Bruchteil der Moskauer Preise. An einem Tisch spricht eine Geschäftsfrau hektisch über Flüge nach St. Petersburg, an einem anderen hat sich gerade eine sexy Mama zu einem schnellen Mittagessen niedergelassen. Im verrauchten Herzen des Cafés sind mehrere Geschäftsleute in ein Gespräch vertieft. Auf der Außenterrasse trifft ein türkischer Student einen italienischen Freund. Kaliningrad ist eine Stadt mit großen Ambitionen. Einheimische vergleichen sie mit Amerika, Australien oder Singapur. Sie ist ein Schmelztiegel verschiedenster Nationalitäten und Hintergründe, eine politisch heiße Kartoffel mit einem eisfreien Hafen. "Wann immer du jemanden fragst, wo sie oder er herkommt", erzählt Marina, eine Lehrerin aus Kirgisistan, "ist das äußerst amüsant. Sie sagen immer, 'von hier', aber dann fragst du, und woher noch?" Nachdem die letzten deutschen Ansässigen 1946 deportiert worden waren, kamen die Leute aus der ganzen Sowjetunion hierher - oft aus Zentralasien.

Es ist bemerkenswert, wie viele sich immer noch entscheiden zu kommen. Kaliningrad fehlt es nicht an Attraktionen, einen Teil ihres Charmes gewinnt die Stadt sogar aus ihren eklatanten Widersprüchen. Ein verfallenes deutsches Haus wird von sowjetischen Blocks überragt, nur ein paar hundert Meter vom Projekt 'Fischerdorf' entfernt, einer keineswegs originalgetreuen Nachgestaltung des alten Königsberg. Am Ende des Siegesplatzes beherbergt das ehemalige Gestapo-Hauptquartier nun den berüchtigten Inlandsgeheimdienst FSB. "Man könnte es nur für eines nutzen", grinst der Stadtführer Sergej, "für irgendwas in Richtung Design". Ein paar Häuser weiter thront das heruntergekommene Haus der Sowjets über einem verlassenen Parkplatz, während genau daneben die Fundamente des verschwundenen Königsberger Schlosses ausgegraben werden. Kaliningrad ist ein verwirrender Mix aus Altem, Neuem, Wiedererbautem und Imaginärem: Karl-Marx-Statuen, Brunnen, anspruchsvolle Rentner und Hummers mit getönten Scheiben.

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UNESCO-geschützer Strand

Die Geschichte wird für Kaliningrad zum Geschäft. Die Stadt hat es sowohl auf lokale Interessen als auch auf die nostalgischen deutschen Touristen abgesehen, die jedes Jahr zu Hunderten in die Stadt pilgern. Das Museum am Friedländer Torbietet eine virtuelle Tour durch das alte Königsberg an, während man in einem Bunker nahe der Universität den Raum sehen kann, in dem die Nazis 1945 die Kapitulation unterzeichneten. In der restaurierten Kathedrale ist dem dort begrabenen Immanuel Kant ein kleines Museum gewidmet.

DieKurische Nehrung ist das wahre Kleinod der Region. Der fast 100 Kilometer lange Landstreifen zwischen Litauen und Russland ist eine zum Unesco-Weltkulturerbe zählende Sandbank in der Ostsee, nur eine halbe Autostunde vom Stadtzentrum Kaliningrads entfernt, die eher an die Sahara erinnert als an das frostige Nordosteuropa. Auf der einen Seite der Halbinsel erstrecken sich riesige kilometerlange einsame Dünen, während auf der anderen Seite lange Strände Tagesausflügler aus der Stadt anziehen. Die zur Stabilisierung mit Bäumen dicht bepflanzte Nehrung beheimatet ebenfalls den "Tanzenden Wald", ein unheimliches Waldgebiet, wo die Bäume mit Knicken wachsen, manche davon sogar mit Schleifen. Kein Wissenschaftler kann dieses Phänomen erklären. Kaliningrad wandelt sich schnell. Da ihre Transformation an Geschwindigkeit zunimmt, ist nur ein kleiner Teil der internationalen Geschäftswelt Zeuge des erfrischenden Dynamismus' der Stadt.

von Ed Saunders

Übersetzung: Daniela Berger-Riede (cafebabel.com)

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