Bukarest, 16. Januar. Demonstration der "Empörten" auf dem Universitätsplatz

Vereinigte Empörte gegen alle

Seit fast einer Woche demonstrieren tausende Menschen aller politischer Couleur überall im Land gegen die Sparmaßnahmen und gegen die Korruption, die die Politik beherrscht. Es wäre Zeit, meint der rumänische Soziologe Mircea Kivu, dass die Regierung ihre Forderungen ernst nimmt.

Veröffentlicht am 19 Januar 2012 um 17:10
Bukarest, 16. Januar. Demonstration der "Empörten" auf dem Universitätsplatz

Höchstwahrscheinlich ist dies die heterogenste Demonstration, an der ich je in Rumänien teilgenommen habe. Das trifft sowohl für die Demonstranten zu (Rentner, Studenten, Revolutionäre, Intellektuelle, Entlassene, Unterstützer, Sänger), als auch für die Forderungen: Lohnerhöhungen, Renten, Autosteuern, die Abschaffung der Parteien, Rosia Montana (Goldmine, wo sich 2000 ein Zyanid-Unfall ereignete), Unabhängigkeit vom internationalen Finanzsystem, der Rückritt des Präsidenten Traian Basescu. Dabei gibt es einen gemeinsamen Nenner: die Empörung. Diese typologische Vielfalt zeigt sich auch im Verhalten der Demonstranten. Im Unterschied zum Jahr 1990 ist der Universitätsplatz heute nicht mehr mehrheitlich von Intellektuellen mit zivilgesellschaftlichem Gewissen bevölkert, die ihre Dialogfähigkeit auf Symposien gelernt haben.

Jeder hofft, dass sich irgendetwas ändern wird

Unter den Empörten finden sich auch „Ausgegrenzte“, Mitglieder von Jugendbanden, die unzufrieden sind – wie jeder eben – weil sie keine Arbeit finden, ihre Sozialleistungen gekürzt wurden, alles teurer wird, die Polizei die Netzwerke der Geldverleiher und Zuhälter deckt und sie für jede Kleinigkeit hart rangenommen werden. Ob es uns gefällt oder nicht, auch sie sind Teil der Zivilgesellschaft.

Für sie bedeutet der Protest vor allem, dem Gegner Schaden zuzufügen, ins Gesicht spucken und mit der Faust in die Brust zu schlagen. Sie haben immer schon die Scheiben der Bushaltestellen eingeschlagen, nicht unbedingt weil diese Staatseigentum waren, sondern weil es Nacht war und keiner es gesehen hatte. Viele gehören auch zu den Fangruppen diverser Fussballclubs, weil ein gewisser Herdentrieb sich anbietet, weil es eben leicht fällt, die Welt in zwei Lager aufzuteilen in die „unsrigen“ und die Feinde und weil sie ohnehin wenig anderweitige Spasserlebnisse haben.

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Aber das war es nicht, was sie auf den Universitätsplatz getrieben hat, sondern vielmehr die Möglichkeit, hier ihrem Ärger lauthals Luft machen zu können, denn sie sind hier ja streng genommen unter jenen, die sie normalerweise zurückweisen und die wie wir alle hoffen, dass sich in ihrem Leben etwas ändern wird.

„Lassen Sie sie doch im eigenen Saft schmoren“

In diesen Tagen haben sich die Demonstranten mit den Polizisten, die Opposition mit der Regierung, die Journalisten vom Fernsehsender Antena 3 mit denen vom Sender B1 im gemeinsamen Kampf gegen die Ultras verbündet. Befragte Demonstranten achten vor den Kameras stets peinlichst darauf zu betonen, sie würde friedlich protestieren. Ihnen würde die Gewalt der Ultras widerstreben. Aber Gewalt ist eben nicht nur einen Stein vom Boden aufzuheben und ihn einem Polizisten an den Kopf zu werfen. Auch das Verabschieden eines Wahlgesetzes ohne überzeugende Argumente und ohne öffentliche Debatten ist Gewalt. Auch die Lohnkürzungen bei denen, die ehrliche Arbeit leisten ist Gewalt. Oder die Zerstörung von denkmalgeschützten Bauten

Die Ultras, so scheint es, wurden identifiziert, festgenommen, isoliert. Endlich können die Proteste friedlich ablaufen. Die Polizisten kontrollieren alle Verdächtigen, ordnen Verhaftungen an (116 an der Zahl am Montag Abend, dem 16. Januar). Die Regierung bringt ihr vollstes Verständnis für die Unzufriedenheit der Demonstranten aus, sie respektiert ihr demokratisches Recht auf Versammlungsfreiheit auf dafür vorgesehenen Plätzen, ändert aber ihr eigenes Verhalten in keiner Weise. Man warte angeblich auf einen Jahrhundertsturm oder auf genug Langeweile, die die Menschen vom Platz vertreiben sollen. Ich meine auch schon einmal folgende Option gehört zu haben: „Lassen Sie sie doch im eigenen Saft schmoren" (vom ehemaligen Präsidenten Ion Iliescu während der Demonstrationen vom April 1990).

Diese Strategie aber birgt ein Risiko: wenn die Menschen feststellen werden, dass es nicht ausreicht, ihrer Verzweiflung symbolisch Ausdruck zu verleihen, könnte es sein, dass sie sich noch nicht genug gelangweilt haben. Sie werden sich ausgegrenzt fühlen und es irgendwann auch tatsächlich sein. Die Polizei hätte dann immer mehr Ultras, deren Identität sie feststellen müsste.

Vox populi

“Alles Schiebung !”

„Niemand, ob in der Regierung oder in der Opposition, hat noch das Vertrauen der Bevölkerung“, heißt es auf der Titelseite des Evenimentul Zilei: „So hoch ist inzwischen die Unzufriedenheit“. Sei es auf dem berühmten Universitätsplatz – der Hochburg der rumänischen Revolutionen, angefangen beim Aufstand gegen Nicolae Ceausescu im Jahr 1989 – oder an anderen Orten im Land: „Die Protestler setzten das Gleichheitszeichen zwischen USL [sozialliberale Union, linke Opposition] und PDL [machthabende, liberaldemokratische Partei]“, schreibt der EVZ. Was die PDL betrifft, so erklärt sich dies durch die äußerst harten Sparmaßnahmen, die sie dem Land aufgezwungen hat. Die Opposition hingegen zahlt für „ihre internen Skandale, die das Vertrauen der Wähler untergraben haben, und ihre Aussagen, die nicht den Prioritäten der Bevölkerung entsprechen“, erklärt die Tageszeitung am 19. Januar. Am selben Tag hatte die Opposition zu einer riesigen Demonstration gegen die Regierung von Emil Boc aufgerufen.

Präsident Trajan Basescu braucht sich allerdings um sein Amt keine Sorgen zu machen. Die Frankfurter Rundschau erläutert die Sachlage so:

Auf Schützenhilfe aus Brüssel dürfen die Demonstranten nicht hoffen, denn mit seiner Sparpolitik ist der Autokrat von Bukarest dort gut angeschrieben. Erst 2014 endet seine zweite und – nach der Verfassung – letzte Amtszeit. Das Ende seiner Macht muss auch das nicht sein. Sein neuer Spitzname „Putinescu“ lässt Schlimmes befürchten.

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