Francisco Zamora kam 2009 mit 225 Euro in der Tasche in Bergen an.

Das kalte Schicksal der Euro-Flüchtlinge

Auf der Flucht vor Arbeitslosigkeit ziehen hunderte Spanier nach Norwegen. Im idealisierten Land angekommen, haben nur wenige Glück. Viele finden lediglich Arbeitslosigkeit, Kälte und Verzweiflung vor. Ein neues Kapitel der gewaltigen Krise, die Spanien quält.

Veröffentlicht am 15 Februar 2012 um 15:04
antena3  | Francisco Zamora kam 2009 mit 225 Euro in der Tasche in Bergen an.

“Seit langem schon hatte ich keinen Anspruch mehr auf Sozialleistungen. Ein paar Monate lang übernahmen meine nicht mehr ganz so jungen Eltern meine 540 Euro-Kreditraten. Alles ging schief. Und meine Zukunftsprognosen sahen alles andere als rosig aus.

Eines Abends war ich in einer Bar, im Hintergrund lief der Fernseher. Der Sender berichtete über ‘Españoles en el mundo’ [Spanier weltweit]. Ein im Norden Norwegens lebender Mann erzählte, dass er 4.000 Euro verdiene. Es schien ihm ziemlich gut zu gehen. Da dachte ich mir: ‘Paco, da musst Du hin’.”

Der 44jährige Francisco Zamora aus Alcantarilla (Murcia) ist ein ruhiger Typ. Um die bittere Kälte abzuwehren, wickelt er seinen Schal drei Mal um den Hals. Ein Elektronikingenieur mit Berufserfahrung in Fabriken und auf dem Bau. Einst verdiente er 3.000 Euro monatlich.

Aber all das hat er vor drei Jahren hinter sich gelassen. Wie Hunderte andere Spanier, die monatelang arbeitslos waren, verließ auch er das krisengebeutelte Spanien. Mit Kurs auf eines der reichsten Länder der Welt. Es musste ganz einfach die richtige Entscheidung sein.

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Polarkälte, Sprachprobleme und Wucherpreise

Doch einmal angekommen, bricht das erträumte Kartenhaus oft in sich zusammen. Mangels Qualifikationen und Sprachkenntnissen schlägt man den Spaniern die Tür vor der Nase zu. Die Behörden wollen nichts von ihnen wissen. Einige haben all ihre Ersparnisse aufgebraucht und haben kaum genug zum Überleben. Wieder andere schlafen auf der Straße.

Im August [2011] bat Paco seine Eltern um noch mehr Geld, das er in ein One-Way-Ticket nach Bergen investierte. Es war das erste Mal, dass er Spanien den Rücken kehrte. In seiner Tasche steckten 225 Euro. Die ersten Tage verbrachte er damit, eine der malerischsten Städte der Welt zu entdecken.

“Ich hatte einen kleinen Rucksack, der in jedes Bahnhofsschließfach passt. Um auf die Toilette zu gehen und mich zu waschen, zahlte ich fünf Kronen (0.75 Euro). Eines Tages traf ich einen anderen Spanier, der mir von einem Heim erzählte, wo ich tagsüber etwas essen und mich aufwärmen könnte.”

Die Robin Hood Foundation nimmt zwei Stockwerke eines Holzhauses im Zentrum von Bergen ein. Mit dem Ziel “ein Zufluchtsort für diejenigen ärmeren norwegischen Familien” zu sein, “die sich keinen 4-Euro-Kaffee in einer Bar leisten können”, öffnete das Heim 2003 seine Türen, berichtet Wenche Berg Huesbo. Als Präsidentin leitet sie die Privatstiftung, die sich zu 270.000 Euro aus öffentlichen Mitteln finanziert.

Zeitungen nennen sie “Euro-Flüchtlings-Arbeiter”

Es ist Mittwochmorgen und im Robin Hood hört man vor allem Spanisch. Zwischen 60 und 100 Menschen kommen täglich hierher. Die Hälfte davon Spanier, erklärt der Direktor Mark Amano. “Vorher sind vor allem Norweger, Polen und eine Familie politischer Flüchtlinge gekommen… Ab März kamen dann die Spanier”, erinnert sich Huesbo.

“Seitdem sind 250 gekommen. Zunächst einmal waren es Männer aller Altersgruppen, dann alleinstehende Frauen in den Dreißigern. Anschließend Väter mit ihren Kindern. Die meisten finden keinen Job weil sie weder Norwegisch noch Englisch sprechen.”

Norwegen begeistert. Mit seinem Erdöl, seinem beneidenswerten Sozialstaat, seiner Politik, die Arbeits- und Familienleben in Einklang bringt, und vor allem seinen hohen Löhnen und der außergewöhnlich niedrigen Arbeitslosenquote (drei Prozent). In den vergangenen Monaten kam hier eine neue Generation von Einwanderern an, die Spanien aufgrund von Langzeitarbeitslosigkeit und immer neuen Lohnkürzungen verlässt. Norwegische Zeitungen haben sie die “Euro-Flüchtlings-Arbeiter” getauft.

Auf die wachsende Gruppe von Spaniern (2010 registrierte die spanische Botschaft 358, 2011 518, plus all diejenige, die sich nicht anmelden) wirkt der norwegische Wohlstand und die TV-Sendung, die über Spanier weltweit berichtet, wie Sirenengesang. (Viele erinnern sich an diese Sendung, wenn sie gefragt werden, warum sie sich für Norwegen entschieden haben. Die letzten drei Sendungen, die sich um [Norwegen] drehten, wurden von zwischen 2.8 und 3.5 Millionen Zuschauern gesehen.)

“Nie zuvor kam mir die norwegische Situation so besorgniserregend vor”

Sind sie erst einmal im Land, schließen sich drei Aspekte zu einem unüberwindbaren Hindernis zusammen: Die arktische Kälte, die Sprache und die Wucherpreise. Ein Zimmer kostet 600 Euro Miete, ein Literpack Milch zwei Euro.

Obwohl Norwegen den Beitritt zur Europäischen Union abgelehnt hat, unterschrieb es das Schengen-Abkommen, das EU-Bürgern freien Zutritt gewährt. Allerdings fehlt es dem Land an öffentlichen Einrichtungen, um denjenigen beizustehen, die mit leeren Taschen ankommen. “Die Regierung kann sie weder unterbringen, noch ihnen finanziell unter die Arme greifen oder ihnen anderweitig helfen. Darum kümmern sich Caritas, Rotes Kreuz und die Heilsarmee”, erklärt Bernt Gulbrandsen der Caritas in Oslo.

In Windeseile sammelten die regionalen Medien Geschichten über die neuen Einwanderer. In einem Land mit nur fünf Millionen Einwohnern, ging der Zustrom nicht einfach an den Menschen vorbei. In der wohlhabenden Stadt Bergen (260.000 Einwohner), in der es so gut wie keinen Obdachlosen gibt, haben Zeitungen und Radiosender den neuen Ankömmlingen verschiedenste Artikel gewidmet.

“Sie sind vor der Krise in Spanien geflüchtet. Allerdings ist das Leben in Bergen nicht so, wie sie es sich vorgestellt haben”, ist auf einer der Titelseiten zu lesen. Auf einer anderen steht: “Viele der Euro-Flüchtlinge leben in Bergen in Armut.”

“Nie zuvor kam mir die norwegische Situation so besorgniserregend vor”, gibt Astrid Dalehaug Norheim zu. Die Journalistin hat sich für die Zeitung Vårt Land um dieses Thema gekümmert. “Das erinnert mich an eine meiner Reisen ins kriselnde Moskau der ausgehenden Neunziger. Auf der Suche nach Arbeit zogen die Russen damals vom Land in die Städte. Dort landeten sie ruiniert in Notunterkünften.”

Wie einige Norweger die Lage einschätzen, verrät uns Tuna, die für das Rote Kreuz in Bergen arbeitet: “Früher sind hauptsächlich Polen hierhergekommen. Dann kamen plötzlich Spanier. Sie haben weder Nahrung noch Arbeit und bitten um Hilfe. Wir können politischen Flüchtlingen helfen, aber nicht denjenigen, die sich freiwillig für diesen Weg entschieden haben.” (jh)

Aus Norwegen

Wie weit zuständig in Europa?

Die Frage der Wirtschaftsflüchtlinge aus Spanien heizt die Debatten in Norwegen an. In Bergens Tidende schreibt der Journalist Sjur Holson, dass “die Eurokrise bei uns angekommen ist. [...] Wenn uns die auf der Straße lebenden Spanier zum Nachdenken über unsere Zugehörigkeit zu Europa bewegen und wenn die Solidarität zum Gemeinplatz innerhalb der Eurozone wird, dann ist ein wichtiger Schritt getan.” Derweilen hatte im vergangenen Monat die norwegische Arbeitsministerin Hanne Bjurstrom erklärt, dass “die Migranten aus Europa, die keine Arbeit finden, gehen müssen.” Norwegen, so betonte sie, “kann sich nicht um sie kümmern.”

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