Der ehemalige Premier Islands Geir Haarde (Mitte), mit Anwalt (links) vor dem Gericht in Reykjavik, 5. März 2012.

Finanzkrise: Politiker auf die Anklagebank?

Das Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen isländischen Premier begann am 5. März. Geir Haarde wird beschuldigt, 2008 beim Ausbruch der Finanzkrise in seinem Land untätig geblieben zu sein. Sollte man diesem Beispiel auch in anderen Ländern folgen? El País stellte mehreren Experten und Journalisten die Frage.

Veröffentlicht am 6 März 2012 um 15:47
Der ehemalige Premier Islands Geir Haarde (Mitte), mit Anwalt (links) vor dem Gericht in Reykjavik, 5. März 2012.

Der isländische Ex-Premier Geir H. Haarde muss sich vor einem Sondergericht wegen “grober Fahrlässigkeit” in der Finanzkatastrophe von 2008 verantworten. Die Krise führte in Island zum Bankrott von drei Banken, zur Einstellung der Schuldenrückzahlungen ins Ausland, zum Sturz der Währung und zur Erhöhung der Arbeitslosigkeit, die auf zehn Prozent stieg. Waren die europäischen Regierungen vorab über die Krise informiert? Welche Verantwortung kommt den Banken zu? Muss die Justiz gegenüber Politikern und Bankiers härter durchgreifen?

Kattya Cascante, Analystin bei der Stiftung Fundación Alternativas, die der spanischen sozialistischen Partei nahe steht

Um die Politiker zur Rechenschaft zu ziehen, muss die Effizienz der unternommenen Handlungen analysiert werden können. Man muss auch verstehen, warum bestimmte Ziele ausgewählt wurden und andere nicht. In einer Demokratie hat die Regierung gewisse Verpflichtungen: Das Parlament muss die Inhalte der politischen Entscheidungen kontrollieren und Zugang zu den nötigen Informationen haben. Doch diese Informationen sind zwangsläufig mit Transparenz verbunden. Sie sollen das Vertrauen in die Institutionen verstärken und höhere Ansprüche an die öffentlichen Institutionen stellen, doch sie sind leider in allen politischen Systemen äußerst mangelhaft.

Jordi Vaquer, Leiter der Arbeitsgruppe über internationale Politik CIDOB in Barcelona

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Eines ist sicher: Ist ihre Immunität einmal aufgehoben, müssen sich Politiker nach illegalen Handlungen vor Gericht verantworten. Doch diese Rechenschaftspflicht muss bei Politikern vor allem über politische Mechanismen gehen. Also über Wahlen, aber auch über die Parlamente, die in vielen Ländern kaum mehr als ein grob inszeniertes Theater der zwischenparteilichen und parteiinternen Rivalitäten sind. Außerdem erweisen sich diese Parteien als besonders unfähig, von ihren eigenen Oberhäuptern Rechenschaft zu verlangen, werden sie doch durch eine vorgebliche “Loyalität” mundtot gemacht.

Aber Vorsicht, der Fall Island darf nicht idealisiert werden. Vor der Krise stand Island unter dem Einfluss einer Günstlingswirtschaft und eines heimlichen Einverständnisses zwischen Regulierungsbehörden und Banken, die schon fast an eine Mafia anmuteten. Das ist ein Land, in dem das alte System nicht weichen will. So entkamen führende Politiker den Gerichten, nachdem sie politische Entscheidungen verzögert hatten, um Aktien zu verkaufen. Geir Haarde war fahrlässig, das ist unbestreitbar, aber sein Freund David Oddsson, der 20 Jahre lang Ministerpräsident und dann Gouverneur der Zentralbank war und heute eine der großen isländischen Zeitungen leitet, ist nicht nur davongekommen, sondern er übt auch Druck aus, um die Ermittlungen zu behindern.

Gonzalo Fanjul, Journalist bei El País

Wir freuen uns alle, zu sehen, dass ein Politiker aufgrund seines schlechten Krisenmanagements vor Gericht gestellt wird. Doch ich bin nicht davon überzeugt, dass das die wünschenswerteste Methode ist. Haftstrafen sind für die Korrupten und Gauner. Die Unfähigen, Skrupellosen und Idioten müssen über die Wahlurnen bestraft werden.

Abgesehen davon halte ich es für ausgesprochen wichtig, die Gründe zu identifizieren, die führende Politiker dazu bewegt haben (und noch weiter bewegen), auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln. Welchen Interessen geben sie nach? Wer hat Zugang zu ihnen und zu ihren Gesetzen und wer nicht? In manchen Fällen darf eine strafrechtliche Verantwortung auf keinen Fall ausgeschlossen werden. Fürs erste wäre ich persönlich allerdings schon mit einer Entschuldigung oder zumindest einem Eingeständnis von Selbstzweifeln zufrieden. Das ist ein erster Schritt, der aber unerlässlich ist, um die richtige Richtung einzuschlagen.

Ana García Femenía, Consultant in Bewertung und Planung öffentlicher Politik an der Universität Complutense in Madrid

Hoffen wir, dass mit dem, was heute in Island passiert, eine Entwicklung in der Einschätzung der Politik beginnt, auf welche ihre Akteure und die Bürger schon so lange warten! Dass es so weit kommen konnte, beruht wahrscheinlich auf der ewigen Weigerung der Politiker, Verantwortung zu übernehmen. So sehr, dass die Bürger dem System gegenüber ermüden. Dass ein Politiker für die Folgen seiner Handlungsweise abgeurteilt werden muss, sollte uns dazu anregen, über die Zwischenmechanismen zur Beobachtung und Bewertung der öffentlichen Politik, über die Mechanismen zur Beschlussfassung, über die Verantwortungsträger, über die existierenden Instrumente zur Analyse nachzudenken und die Politik umzuorientieren, usw.

Antonio Elorza, Politikanalyst, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Complutense in Madrid

Die Verantwortungen in dieser Krise – in den höchsten politischen und administrativen Ebenen, aber auch hinsichtlich der Entscheidungen, die zu präzise identifizierten Katastrophen führten – müssen vor allem an die Öffentlichkeit gebracht werden. Dann wäre die Verurteilung der Verantwortlichen, wenn das Gesetz dies erlaubt, in der Tat ein beträchtliches Plus für die Demokratie.

Juan Arias, Korrespondent von El País in Brasilien

Ich glaube, der Fall Geir H. Haarde muss ein Exempel werden und auch auf andere angewandt werden. Es ist angesichts von Krisen dieses Ausmaßes, die den Alltag von Millionen von Menschen betreffen, nicht tragbar, dass sich kein Schuldiger für seine Handlungen verantworten muss. Selbst im kleinsten Unternehmen muss der Geschäftsführer im Konkursfall Rede und Antwort stehen.

Meiner Meinung nach sind die Hauptverantwortlichen in der letzten Instanz die Politiker, mehr noch als die Bankiers und Unternehmensleiter, aufgrund ihrer mangelnden Wachsamkeit und in manchen Fällen sogar aufgrund ihrer Mitschuld. Das Fehlen von Schuldigen in Krisen wie der heutigen ist die schlimmste Missachtung ihrer Opfer. Und dafür sollte sich niemand verantworten müssen? Ich sage Hut ab, Island! (pl-m)

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