Die Schmuddelstädte mucken auf

Man mag sie nicht, und sie mögen das. Aufsässig, dreist, fast wie einsame Inseln. Hafen- oder Fußballstädte, Metropolen der Kriminalität: heute mucken sie auf. Für sie ist Kultur ist der Lösungsweg, dank Cities on the Edge (Städte am Rand), einem Netzwerk zur Selbsthilfe der „im eigenen Land am meisten gehassten Städte“.

Veröffentlicht am 7 Januar 2010 um 10:13

Die Idee keimte 2005 in Liverpool, als die Hafenstadt mit Rekordarbeitslosigkeit und hoher Kriminalitätsrate zur Europäischen Kulturhauptstadt 2008 erkoren wurde. Die Stadt der Beatles beschloss, aus ihrem schlechten Ruf eine Stärke zu machen und ihre europäischen Leidensschwestern in eine unkonventionelle Städtepartnerschaft einzubinden. Zwei Männer stehen hinter dieser Idee: Bob Scott, Intendant des Projekts von 2008, der seinem Programm mehr Europa einhauchen wollte. Und Franco Bianchini. Für den in Liverpool lebenden Universitätsprofessor aus der Toskana liegt die Schicksalsgemeinschaft dieser Städte auf der Hand: dieselben Handicaps, denselben zwielichtigen Charme, denselben übertrieben schlechten Ruf.

Um das Netzwerk auszubauen wandte man sich dann an Istanbul, Europäische Kulturhauptstadt 2010, eine Stadt, in der Kontinente und Religionen aufeinanderprallen, eine Stadt, vom offiziellen Europa sich selbst überlassen. Dann gesellte sich noch die von Hamburg in den Schatten gestellte Hafenstadt Bremen dazu. Und zuletzt Danzig, Vertreter des neuen Europas. Ein Sextett der Unbeliebten? Dieser Eindruck verrät eher, dass man über diese Städte nicht viel weiß, dass man sie nicht versteht.

Nehmen wir Marseille. Wie sollte die Stadt denn auch zu einer normalen französischen Stadt werden? Sie war früher einmal unabhängig (von 1592 bis1596). Dann wurde sie von Louis XVI zurückerobert. Die Kanonen seiner Festungen zielten eher auf die Stadt als auf Feinde auf See. Und 1794 wurde sie nach Aufständen zur „namenlosen Stadt“ erklärt. 1936 stellte man sie nach dem Brand der Nouvelles Galeries dann unter die Vormundschaft des Staates, ein Schlag der Lokalpolitiker gegen den Arbeiteraufstand. Alessi dell’Umbria erklärt in seiner Geschichte Marseilles, dass sich die Stadt immer durch seinen steten Unabhängigkeitsdrang definierte. Und Neapel? Eine der ältesten Städte Europas. Wenn man heute von ihr spricht, dann wegen des Müllproblems oder der Morddrohungen der Camorra gegenüber dem Schriftsteller Roberto Saviano.

Und Liverpool? Wer kann eine Sehenswürdigkeit, einen Politiker dieser Stadt nennen? Die Stadt wird quasi von den Beatles und den Reds erdrückt, so wie Marseille von Pagnol und dem Olympique Marseille. Auch Bremen wird ausschließlich mit dem reichen Hamburg vergleichen. Und Danzig sucht immer noch nach einer Identität, die ihr von den verschiedenen Machthabern seit eh und je abgesprochen wurde. Eine Stadt wie ein Phoenix aus der Asche... ebenso wie Istanbul. Viele im eigenen Land verachten diese Städte im inneren Exil, Städte, die nur im Geiste ihrer Bewohner Metropolen sind.

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Die höfliche Revolte

Ein Widerspruch: Trotz ihres schlechten Rufs sind sie attraktiv. Die Bobo-Chics aus Paris düsen im Schnellzug TGV nach Marseille, um authentische Menschen zu sehen. Dazu machte die in Marseille spielende Seifenoper Plus belle la vie die Stadt bei den Kids populär. Bremen besitzt eine der besten Universitäten Deutschlands. Neapel steht zu seinem Namen (Nea Polis = die neue Stadt). Istanbul verkörpert die Modernität einer sonst eher traditionell ländlichen Türkei. Franco Bianchini, der ehedem Stadtplanung studierte, hatte diesen Effekt von Anziehung und Ekel in Neapel am eigenen Leib erlebt. In diesen Zeiten der Reflexion über Identität mischen diese Außenseiter das Spiel neu. Und sie vertiefen die Debatte. Bremen ist gleichzeitig das kleinste Land Deutschlands. Danzig war früher mal deutsch, Mitglied der Hanse, dann autonom und schließlich polnisch. Istanbul war Byzanz und schließlich Konstantinopel... Die Städte sind in Bewegung, immer am Rand der Krise, und trotzdem haben sie ihre Geschichte mit einem spöttischen Lächeln durchlebt, Höflichkeitsform des Widerstands.

Obwohl grässlich, dreckig und bitterböse, sind sie auch Nährboden für die verschiedensten Milieus. Viel Folklore, aber auch Zentren von sozialen Forderungen. Stachel. Man kann sagen, dass das Netzwerk eher innerhalb der Städte selbst als gegenüber den öffentlichen Institutionen funktioniert. Ab 2008 ging ihnen dann die Puste aus. Neapel spürte, dass da nicht viel zu holen war und stieg aus. In Istanbul blieb von der anfänglichen Begeisterung nach den etlichen Personalwechsel bei der Organisationsleitung von Istanbul 2010 nicht viel übrig. Liverpool hat versucht, Fördermittel vom EU-Kulturprogramm für das Netzwerk zu bekommen. Wider Erwarten wurde dies abgelehnt.

Bernard Latarjet vom Komitee Marseille-Provence 2013lässt heute aber nicht locker. Cities on the Edge bleibt während des Umbaus geöffnet: „Liverpool hat den Stab an uns weitergereicht. Wir fühlen uns moralisch verpflichtet.“ Er will das Netzwerk gen Süden ausbauen, mit Tanger und Valencia. Und er will Cities on the Edge noch mal in Brüssel präsentieren. „Es ist ein durch und durch europäisches Projekt. Die Abfuhr durch Brüssel ist völlig unverständlich. Was wollen die denn mehr?“ wundert er sich.

Nach dem dreimaligem Wechsel des Organisationsteams wurde erst kurz vor Beginn der „Europäischen Kulturhauptstadt Istanbul“ das offizielles Programm bekannt gegeben. On the edge, wie gehabt.

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