Neonazis und Islamisten, unser doppelter Albtraum

Die ersten Verdächtigen in den Morden von Toulouse und Montauban waren drei ehemalige Fallschirmjäger mit neonazistischen Neigungen. Das Blutbad von Utøya hingegen wurde zunächst dem islamistischen Terrorismus zugeschrieben. Die beiden entgegensetzten Seiten der Intoleranz gegenüber der Multikulturalität stehen sich oft sehr nahe.

Veröffentlicht am 22 März 2012 um 14:58

Letztendlich war es ein Allah-Fanatiker, der der Hölle in Toulouse entstieg. Kein neonazistischer Fallschirmjäger, der im finsteren Schoß der französischen Geschichte ausgebrütet wurde, sondern ein Krieger der Alltagsintifada, die sich in den Vororten Frankreichs verzehrt.

Eine dumpfe Guerilla, die sich von Toulouse bis Paris ausbreitet – in den „verlorenen Gebieten der Republik“, wie sie ein bekanntes Pamphlet über den ganz gewöhnlichen Antisemitismus, der in den Schulen in den Vororten herrscht, nennt.

Dieses dunkle und in Frankreich besonders hartnäckige Übel vereint die beiden heißen Spuren, die sowohl die Ermittler als auch die öffentliche Meinung in diesen Tagen des mörderischen Wahnsinns verfolgt hatten: Drei junge Soldaten (nordafrikanischen Ursprungs) wurden kaltblütig erschossen, ein vierter Soldat schwer verletzt und vier weitere Menschen (drei Kinder und ein Mann) an der jüdischen Schule Ozar-Hatorah in Toulouse verfolgt und wie Tiere abgeknallt in dieser „ville rose“, der rosafarbenen Stadt, in der sich das Grab des Heiligen Thomas, des vernünftigsten aller christlichen Philosophen befindet.

Zuerst dachte man, der Killer könne einer der drei Fallschirmjäger sein, die wegen ihrer neonazistischen Gesinnung vom 17. Regiment der Fallschirmjäger von Montauban ausgeschlossen wurden. Die Zeitungen veröffentlichten ein Bild der drei Männer, den Hitlergruß zeigend und in eine Hakenkreuzfahne eingehüllt.

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Der Abschaum der Gesellschaft

Junge Fanatiker, Franzosen, Weiße. Sie besaßen die typische Biografie für einen Mörder, der den Verrat seiner Waffenbrüder rächt, aber drei Soldaten maghrebinischer Herkunft abschießt, bevor er Juden in einer Schule angreift. Der Prototyp des Le-Pen-Aktivisten – was nicht heißen soll, dass jeder, der für Jean-Marie Le Pen gestimmt hat und heute für seine Tochter Marine [Kandidatin der Rechtsextremen bei der französischen Präsidentschaftswahl] stimmt, ein potentieller Mörder ist.

Die Wirklichkeit hat uns einen anderen Schuldigen beschert, Mohamed Merah, einen Franzosen algerischer Abstammung (ein „Einwanderer der zweiten Generation“, wie das übliche Oxymoron lautet), der gestern um ein Uhr morgens die Telefonzentrale des TV-Senders France 24 anrief, um der diensthabenden Journalistin – Ebba Kalondo, einer Frau afrikanischer Herkunft (wir sind in einer multiethnischen Gesellschaft) mit einer sanften, ruhigen Stimme – die Gründe für eine derartige Abscheulichkeit zu enthüllen.

Mohamed Merah behauptete, er gehöre zu al-Qaida und habe „unsere kleinen Brüder und Schwestern in Palästina rächen“ wollen. Außerdem sei er gegen das Gesetz, das den Ganzkörperschleier für muslimische Frauen verbietet, und gegen die Teilnahme der französischen Armee am Krieg in Afghanistan.

Wie ist es möglich, dass zwei so unterschiedliche und sogar entgegengesetzte Szenarien in Betracht gezogen werden konnten, um die beiden Blutbäder zu erklären? Nun, das eine wie das andere waren gleich plausibel. Der islamistische Terrorist wie der neonazistische Fallschirmjäger gehören zum Abschaum der Gesellschaft, zwei entgegengesetzte Albträume, die dennoch nebeneinander existieren und sich nicht gegenseitig aufheben, sondern sich – ganz im Gegenteil – gegenseitig verstärken.

Ein stärkeres, abgeriegelteres Frankreich

Derselbe Kurzschluss wie in Toulouse hatte sich schon im vergangenen Juli in Oslo ereignet, bei den Anschlägen des Fanatikers Anders Behring Breivik: acht Tote in einer Bombenexplosion, 69 erschossene Menschen in einem Sommerlager junger Sozialdemokraten. Die erste Hypothese war ein Angriff islamistischer Terroristen gegen junge Leute aus dem Westen.

Doch der Täter war ein blonder Norweger um die 30, der sich als christlicher und pro-israelischer Fundamentalist, als Feind des Multikulturalismus, des Marxismus und des Islamismus definierte. Er wollte junge Sozialisten treffen, denen er die Schuld an einer massiven muslimischen Immigration gab.

Zwei unterschiedliche Albträume also, doch so komplementär und so kompatibel, dass die Politik ein paar Stunden lang eine ausgesprochen erbitterte Wahlkampagne unterbrach. Aus Respekt für die Opfer, gewiss, dem Savoir-Vivre entsprechend, das in Frankreich in der Schule gelehrt wird. Doch auch um das Verständnis abzuwarten, um keinen Fauxpas zu begehen.

Der Ton ist fest. Nicolas Sarkozy hat das Thema der Immigration und der Ausländer zu einem Kernpunkt gemacht, um gegen Marine Le Pen anzukämpfen. So sehr sogar, dass das Wall Street Journal ihm den Spitznamen „Nicolas Le Pen“ gab. Der Präsident verspricht den Franzosen ein stärkeres, abgeriegelteres Frankreich. Er hat es nicht ausgeschlossen, den Schengen-Vertrag über den freien Personenverkehr innerhalb der EU-Länder aufzuheben. Eine Perspektive, die Angela Merkel stark verärgerte.

Sie hat scheinbar nicht mehr die Absicht, wie versprochen an „Sarkos“ Wahlveranstaltungen teilzunehmen. Das ist das Klima, das heute in diesem Frankreich herrscht, in dem Mohamed Merah, eine seit Jahren im Toulouser Stadtviertel Le Mirail schlafende, vereinzelte Zelle von al-Qaida, beschloss, zur Tat überzugehen. Es hätte ein Neonazi von den Fallschirmjägern sein können. Statt dessen war es das Gespenst von Bin Laden. Was natürlich in keinster Weise beruhigender ist. (pl-m)

Analyse

Mohamed Merah, ein „Nike-Terrorist“

Für Con Coughlin im Daily Telegraph passt auf Mohamed Merah das Profil dessen, was die Geheimdienste „Nike-Terroristen“ nennen. Wenn es darum geht, Terroranschläge zu verüben, könnte man deren Motto nämlich mit „Just do it“ (mach’s halt einfach) beschreiben.

Anstatt sich an spektakulären Anschlägen in der Größenordnung des 11. September zu versuchen, werden die Nike-Terroristen dazu ermutigt, mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, möglichst viele Opfer zu verursachen.

Geheimdienstbeamte glauben, dass rund zwei Drittel der ursprünglichen Anführer von al-Qaida in den letzten zehn Jahren getötet oder gefangen genommen wurden – darunter der Begründer Osama bin Laden. Die Fähigkeit der Bewegung, groß angelegte Terroranschläge wie am 11. September zu organisieren, wurde dadurch stark gemindert.

Die Anschläge in Mumbai im November 2008, als eine Bande al-Qaida-Terroristen eine Reihe von sorgfältig koordinierten Schießereien und Bombenangriffen ausführten, bei welchen 164 Menschen ums Leben kamen, wurden als das erste Beispiel dieser neuen Taktik angesehen.

Mit Blick auf die Vorbereitung der Olympischen Sommerspiele in London bemerkt Coughlin folgendes:

Es spielt keine Rolle, wie viele Luftabwehrgeschütze oder Eurofighter man für die Spiele aufstellt, wenn eine Gruppe von al-Qaida-Terroristen beschließt, die Menge mit Messern, Schusswaffen und hausgemachten Bomben anzugreifen.

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