Über den wirklichen Einfluss von Geert Wilders auf die Regierung wurde viel gelogen. Den Haag, Niederlande.

Was ist mit Holland los?

Das Schweigen des niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte über die Anti-Migranten-Website der PVV von Geert Wilders ist symptomatisch, meint Paul Scheffer. Es fehlt an Visionen zur Zukunft einer Einwanderungsgesellschaft in den Niederlanden.

Veröffentlicht am 26 März 2012 um 10:41
Roel Wijnants  | Über den wirklichen Einfluss von Geert Wilders auf die Regierung wurde viel gelogen. Den Haag, Niederlande.

Wer die Berichterstattung über Holland im Ausland ein wenig verfolgt, der weiß, dass sie sich nur noch um eine Frage dreht: „Was ist mit diesem toleranten Land passiert?

Aus dieser Frage spricht aufrichtige Enttäuschung; sie ist aber auch ein Kniefall vor einem neuen Klischee. So wie ehedem die Korrespondenten über die scheinbar grenzenlose Freiheit im Land der Tulpen schrieben, so suchen sie heute fleißig Beispiele, um die verkrampften Verhältnisse zu veranschaulichen.

Und schwierig ist das nicht. Beispiele gibt es genug, mit als jüngstem Höhepunkt dem Anti-Polen-Portal. Macht sich nur irgendjemand aus den Regierungskreisen die Mühe und liest die deprimierende Serie von Artikeln über das Beschwerdeportal, den Ost-Pranger, L’appel à dénoncer les migrants, Anti-Polish-Hotline oder die Dutch Anti-Immigration Website? Und hier beschränke ich mich nur auf Deutsch, Französisch und Englisch.

Sicherlich spielt in der Empörung anderer Länder auch Eigeninteresse mit. Die zehn Botschafter ost- und mitteleuropäischer Länder, die in einem offenen Brief gegen die Melde-Website protestierten, hätten selbst genug zu erklären, wenn es um die Rechte der Minderheiten in ihren eigenen Ländern geht. Und vom Europäischen Parlament kann man sagen: je kleiner der Einfluss, desto wuchtiger die Wortwahl. Darüber hinaus gibt es echte Probleme mit dem freien Personenverkehr in Europa — vor allem wenn noch Rumänien und Bulgarien hinzukommen.

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Fleck auf dem Teppich immer größer

Das alles ist wahr, doch mittlerweile wird der Fleck auf dem Teppich immer größer. Genau das scheint Ministerpräsident Rutte nicht ausreichend zu erkennen. In Brüssel und anderswo wächst der Eindruck, dass in Den Haag über den wirklichen Einfluss von Geert Wilders auf die Regierung viel gelogen wurde.

Die Hotline-Affäre steht nicht allein. Der dänische Karikaturenstreit hatte es bereits gezeigt: Es wird aufgrund dessen, was innerhalb einer Gesellschaft passiert, mehr Konflikte zwischen den Regierungen geben. Die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen führte zu Unruhen im Nahen Osten. Umgekehrt wirken sich die Konflikte im Ausland mehr und mehr in unseren Städten aus, wie sich letzte Woche beim Attentat auf eine Moschee in Brüssel zeigte, welches mit dem Bürgerkrieg in Syrien zu tun hatte.

Die zunehmend dünneren Grenzen zwischen In- und Ausland — wobei die Migration eine wesentliche Rolle spielt — verlangen nach einer aktiven Diplomatie. Die vorherige Regierung des Christdemokraten Jan Peter Balkenende war in dieser Hinsicht wachsamer.

Als Wilders [2008] mit seinem Film Fitna über den Islam ankam, wurden auf subtile Weise die schädlichen Auswirkungen eingedämmt. Durch eine Reihe von Initiativen, wobei auch eine Reihe Prominenter auf der muslimischen Gemeinschaft eine Rolle spielten, konnte man möglichen gewalttätigen Reaktionen aus dem Nahen Osten begegnen.

Wann ist ein Ausländer nicht mehr Ausländer?

Solche Diplomatie ist nur dann effizient, wenn sie auf einem vernünftigen Konsens beruht. Das verschämte Schweigen Ruttes zeigt der Außenwelt ein gespaltenes Land. Zwischen den Parteien, welche die Regierung stützen, gibt es grundlegende Meinungsverschiedenheiten zur Frage der Immigration und die Uneinigkeit der Mehrheit hat in den vergangenen Jahren noch zugenommen.

Anfangs ging es noch um die Natur des Islam: Ist er eine Religion oder eine politische Ideologie? Der Zwiespalt konnte noch mit einem agreement to disagree überwunden werden. Mittlerweile betrifft die Uneinigkeit den Kern der europäischen Integration: den freien Personenverkehr. Die Melde-Webseite gibt zu verstehen, dass nicht unbedingt alle Bürger der Union gleich zu behandeln sind, und die Initiatoren finden, dass die Öffnung der Grenzen ein großer Fehler war.

Dahinter verbirgt sich ein noch tiefgreifender Unterschied beim Konzept der Immigration. Wenn die Politiker der Partei für Freiheit (PVV) vorschlagen, dass die Enkel der Einwanderer, also die dritte Generation immer noch als „Ausländer“ klassifiziert werden sollen, dann wird hier eine klare Wahl getroffen. Man sagt uns nämlich, dass die Neuankömmlinge und ihre Nachkommen — die im Jahr 2025 ungefähr ein Viertel der Bevölkerung darstellen werden — nie wirklich ein Teil der Gesellschaft sein werden.

Die Melde-Hotline und das Schweigen Ruttes zeugen von einer wachsenden Kluft. Die Verurteilung durch das Europäische Parlament gibt Anlass zur Sorge, peinlicher aber ist die Verlegenheit der politischen Mitte, einschließlich der Opposition. Letzterer will es nicht gelingen, in zukunftsweisender Manier über die Wirtschaft und die Symbolik der Einwanderungsgesellschaft zu sprechen. Alles ist in zehn Jahren Integrationsdebatte gesagt worden, aber der Weg aus der politischen Sackgasse ist noch immer nicht gefunden.

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